IV. Rafaëla's Sohn.


Der französische Minister des Innern, Graf Tanneguy Duchâtel, gab einen glänzenden Ball. Musik, Blumen, nichtssagende Gesichter, glänzende Toiletten, schwarze Fracks und Ordensdekorationen, Hitze und Langeweile, Alles im Ueberfluß, wie gewöhnlich.

Ein bleicher, junger Mann mit düsterm Auge und marmorartigen, unveränderlichen Zügen, mit dichtem schwarzem Bart und dem rothen Bande der Ehrenlegion im Knopfloch des modischen Frack's drängt sich gleichgültig durch die Gruppen von Deputirten der der ministeriellen Majorität, durch die etwas verlegen aussehenden Edelleute der Faubourg St. Antoine und des ralliirten Theils der Faubourg St. Germain, er beachtet weder den modernen, fetten Geldadel von der Chaussée Antin, noch die stets vornehm und unzufrieden aussehenden Mitglieder der Diplomatie. Endlich gelangt er an die Thür eines kleinern Salons, die von einer Gruppe neucreirter Pairs und einigen alten Napoleonischen Säbelhelden gesperrt ist.[79]

Es ist unmöglich hier weiter zu kommen.

Der junge Mann wendet sich an einen schönen, ernstaussehenden Herrn, der ohne Theil am Gespräch zu nehmen, sichtlich unbekümmert um das Treiben um ihn her, seinen Gedanken Audienz zu geben scheint.

»Können Sie mir nicht sagen, Herr Cousin, wo ich den Grafen Duchâtel finde?«

Victor Cousin, Mitglied der Academie, Pair von Frankreich, der große Eclektiker, richtet sich auf, nickt ein wenig mit dem Kopf: »Bedaure Ihnen nicht dienen zu können, mein Herr Graf von St. Aignan!« sagt er langsam, nickt wieder ein wenig mit dem Kopf und lehnt sich auf's Neue an den Pfosten der Thür.

»Sie suchen den Minister, Graf St. Aignan? er spricht eben mit Madame Hugo dort, sehen Sie!« redet ein älterer Mann mit den Formen der alten Aristocratie den jungen Grafen an.

»Ich danke Ihnen, Herr Herzog!«

Es war der Herzog von Broglie, der große Staatsmann, der die Hauptstütze einer Dynastie ist, die er nicht liebt, in deren Herrschaft er sich nur, wie in eine nicht abzuweisende Nothwendigkeit, ergeben hat, es ist Broglie, der wahre Freund der Constitution, den das[80] Volk liebt trotz seiner aristocratischen Formen, den es achtet wegen seiner gewissenhaften Gesinnungstreue.

Der junge Graf St. Aignan eilt nach der ihm durch den Herzog bezeichneten Stelle, er hat Mühe sich von dem feisten, geschwätzigen Sauzet loszumachen, der gern Präsident der Kammer werden möchte für diese Sitzung, er drängt sich in die Gruppe, die sich dicht um die geistreiche Gemahlin des berühmten Dichters geschlossen hat, er tritt dem armen Grafen Salvandy auf seine podagraischen Füße und wird endlich des Ministers ansichtig. Er flüstert dem Grafen Duchâtel einige Worte zu.

»Zu spät?« antwortet dieser leicht, »ich danke Ihnen, Graf, ich werde Don Martinez de la Rosa selbst beruhigen, ist mir in einer Art lieb, hätte doch viel Aufsehen gemacht.«

Der Graf von St. Aignan verbeugt sich und eilt davon.

Er verläßt den ministeriellen Ball, wirft sich unten in seine Equipage, »Hôtel Liancourt!« flüstert er dem Jäger zu, »Faubourg St. Germain!«

Der Wagen rasselt davon und vorsichtig nestelt der junge Graf das Band der Ehrenlegion aus dem Knopfloch seines Fracks. Der Wagen hält unter dem[81] Portale eines alten, stattlichen Gebäudes, mehrere Equipagen machen bereits Queue.

»Vorwärts, ich habe Eile!« ruft er dem Jäger zu.

»Platz für den Wagen des Herrn Grafen von St. Aignan!« schreit der Kutscher, »Platz für den Herrn Grafen von St. Aignan!«

»Fahren Sie zur Seite, Kutscher,« ruft eine helle Stimme aus dem nächsten Wagen, »die jungen Leute haben nicht Zeit zu warten, wir Alten kommen noch immer zu früh!«

Der Graf von St. Aignan beugt sich aus dem Schlage und antwortet: »ich bitte um Entschuldigung, Herr von Chateaubriand, ich erkannte Ihre Livrée nicht.«

»Hat nichts zu sagen, Herr Graf, ich steige soeben aus und führe die Herzogin von Brancas, meine Nichte, hinauf, folgen Sie meinem Beispiel.«

Der junge Graf folgte wirklich dem gegebenen Beispiel, er trat mit Chateaubriand in den legitimistischen Salon des Herzogs von Larochefoucauld-Liancourt und war in diesem exclusiven Cirkel eben so bekannt, wie auf dem Balle des orleanistischen Ministers; eine Viertelstunde vielleicht sprach er mit dem alten Herzoge von Escar, der an der Spitze des legitimistischen Comité's in Paris stehen soll, begrüßte sich dann mit dem gewaltigen[82] Redner Berryer, mit dem Baron Larcy, dem Marquis von Boissy und einigen andern Deputirten und Pairs der legitimistischen Partei und eilte dann seinen Wagen wieder zu erreichen.

»Collège Charlemagne!« rief er dem Jäger zu.

Im Wagen verfehlte er nicht sein rothes Bändchen wieder einzuknüpfen.

Der Wagen hielt.

»Herr Michelet?«

»Herr Michelet ist nicht zu Hause!«

Der Graf gab seine Karte ab.

Von dem Professor Michelet, dem kühnen Vertheidiger der Universität, dem gefürchteten Feinde der Jesuiten, fuhr der Graf St. Aignan nach der rue des po stes, nach dem Hause Nro. 9, bekanntermaßen dem Haupthause des Jesuitenordens in Paris.

In diesem Hause blieb er sehr lange und es war fast Mitternacht, als er nach seinem Hôtel in der Faubourg St. Antoine zurückkehrte, dort nahm er sich kaum Zeit, sich umzukleiden. In eine graue Blouse gehüllt bestieg er einen Fiacre, den ihm sein Jäger geholt hatte und ließ sich nach der Ecke der Straße Scopin fahren. Ausgestiegen dort, trat er in einen schmutzigen, dunkeln Hausgang, öffnete eine Thüre und befand[83] sich in einem niedrigen, schlecht erleuchteten Saal, der voller Männer war, die alle den untersten Classen des Volkes angehörten.

Es war eine Arbeiterversammlung, Graf St. Aignan befand sich in einer Arbeiterversammlung.

Wir sind nicht bei der Conferenz zugegen gewesen, die der Graf in der Jesuitenhöhle in der Poststraße gehabt, leider sahen wir, daß er Herrn Michelet nicht zu Hause fand, aber sein gracieuses, vornehmes, sicheres Auftreten in dem legitimistischen Salon des Herzogs von Larochefoucauld-Liancourt, so wie sein geschäftiges Benehmen bei sehr zur Schau getragener Mißachtung der feinern Sitte im Ministerhôtel, sein Aus-und wieder Einbinden des rothen Bändchens der Ehrenlegion, das Alles kann uns wenigstens einen Begriff von dem Charakter des Grafen St. Aignan geben.

Wir sind nicht geneigt einen Mann zu achten, der mit allen Parteien in Verbindung steht, einer dient er doch nur, vielleicht keiner, und Viele sind getäuscht in jedem Fall. Wir Menschen werden im Allgemeinen einen Mann nicht günstig beurtheilen, der an einem Abend den Ball des Ministers der herrschenden Dynastie, den Salon der Getreuen eines vertriebenen Herrschers, die Wohnung des Hammers der Jesuiten[84] (malleus Jesuitarum) und diese Jesuiten selbst aufsucht, endlich aber mit der Theilnahme an einer communistischen Arbeiterversammlung den Tag schließt.

Graf St. Aignan, der beim Minister trefflich den Beamten, im Hôtel Liancourt ausgezeichnet den alten Edelmann gespielt hatte, machte auch als Arbeiter seiner Rolle keine Schande – es wurde eine Rede gehalten – gleichgültig stieß St. Aignan die vor ihm Stehenden weg, nicht wie ein vornehmer Herr, der Platz haben will, sondern ganz wie ein Arbeiter, der unter seines Gleichen ist, sich aber vordrängen muß, weil – er schwer hört, denn sobald ihm einer der Gestoßenen einen zornigen Blick zuwirft, so zeigt er mit dem Zeigefinger auf sein Ohr und mit der natürlichen Höflichkeit der niedern Stände wird dem schwerhörenden Kameraden Platz gemacht.

Auf diese Weise war es dem Grafen gelungen bis in die Nähe des Redners zu kommen, er maaß diesen mit einem scharfen Blick und lehnte sich dann an ein Fenster, sichtlich sehr wenig aufmerksam auf das, was der Redner sprach – war auch nicht der Mühe werth – utopistische Träumereien, mit denen der sogenannte Communismus die armen Arbeiter heutzutage füttert, anstatt ihnen Brod zu geben und Menschenrechte! Ein[85] alter Arbeiter drängte sich jetzt an den Grafen und fragte ihn leise, ohne ihn dabei anzusehen:

»Was befehlen Sie? Hier ist nichts zu thun, die Sache ist ganz unschuldig.«

»Würden Sie den alten Mann wiedererkennen,« antwortete St. Aignan eben so, »den ich Ihnen vor einigen Tagen zeigte?«

»Den Spanier? Gewiß!«

»So kommen Sie morgen zu mir, aber zeitig!«

»Gut! Sollen wir hier aufräumen, oder ist's nicht nöthig?«

»Lassen Sie den Leuten ihr Vergnügen und merken Sie sich nur den Redner.«

»Ja!« rief der Redner eben, »die Feigheit und Bestechlichkeit der Beamten ist eine Quelle unseres Unglücks, die andere aber ist die gräßliche Perfidie, die wie eine Krankheit am Staatsleben frißt; keine Treue mehr, nirgend, überall Verräther, Spione. Espionage ist das Hauptmittel der Regierung, mit Spionen beherrscht sie uns; glaubt Ihr nicht, daß auch hier unter uns Spione sind? Ich sage Euch, es sind Spione in diesem Saal!«[86]

Ein drohendes Gemurmel wurde hörbar und eine helle Stimme rief: »Wer sind die Spione, nieder mit den Spionen!«

»Nieder mit den Spionen!« brüllte die Masse.

»Seht den jungen Mann dort,« schrie der Redner, auf St. Aignan zeigend, »er hat eine Blouse an, aber glanzlederne Stiefelchen, welcher Arbeiter trägt glanzlederne Stiefelchen? Er hat einen schlechten Hut auf, aber seine Haare sind parfümirt; er ist ein Spion!«

Furchtbares Geschrei von allen Seiten, St. Aignan rührte sich nicht aus seiner halbliegenden Stellung am Fensier.

»Was sagte er jetzt?« fragte er kaltblütig einen Arbeiter, der neben ihm stand und ihn mit drohenden Blicken musterte, »ich verstand nicht recht, ich hörte von Spionen?« und dabei deutete der junge Mann so unnachahmlich natürlich auf sein Ohr, daß er die Umstehenden irre machte.

St. Aignan war jetzt von einem dichten Kreise drohender Arbeiter umschlossen.

»Wer bist Du? was arbeitest Du?« fragte ihn ein grimmiger Eisenarbeiter mit rußigem Gesicht.

»Wie?« fragte St. Aignan, seine Hand an's Ohr haltend.[87]

»Wer Du bist?« schrie ihm der Eisenarbeiter in's Ohr.

»Das geht Dich nichts an!« antwortete der junge Graf kurz.

»Nieder mit dem Spion!« schrieen zwar noch immer viele Stimmen, aber das kalte Benehmen des jungen Mannes hatte doch viele Andere ganz getäuscht.

»Die Minister schicken taube Spione!« lachte man, »ein tauber Spion!« brüllte ein kleiner Mann dicht am Ohre St. Aignan's.

St. Aignan schien das gehört zu haben. »He!« rief er, sich aufrichtend, »treibt Ihr Spott mit meiner Taubheit? Schimpft Ihr mich etwa Spion, weil ich's nicht hören kann? He, dieser Mann hat mich Spion geschimpft, das leidet kein braver Franzose, ich will ihm den Spion in seinen kahlen Schädel hineintrommeln; macht Platz Kameraden, gebt uns Raum zu einem ehrlichen Kampfe.«

Die Arbeiter traten zurück, der Kreis erweiterte sich. »He, lustig, der dicke Enterich und der taube Spion sind aneinander!« schrie die Menge, die sehr begierig das Schauspiel des Kampfes erwartete. Der untersetzte, dicke Mann trat hervor und schien sich entschuldigen zu wollen, St. Aignan, seiner Rolle treu,[88] hörte natürlich nichts: »Lump, Canaille,« schrie er mit erkünstelter Wuth, »schimpfst Du noch immer?« und schlug mit einem Schlage dem kleinen Manne den Hut vom Kopfe, dieser, dadurch in Zorn gesetzt, stieß ihn vor die Brust, der Graf aber ergriff ihn bei den Haaren, zog ihn vorwärts etwas nieder und ließ einen solchen Hagel von Faustschlägen auf die Schultern und den Nacken des armen Menschen regnen, daß dieser bald in ein wehmüthiges Geheul ausbrach. St. Aignan aber hörte nichts, er hieb tüchtig drauf los, endlich wendete sich der kleine Mann an das Mitleid der Umstehenden und Einer derselben schrie dem vermeintlich Tauben in's Ohr: »So hör' doch auf, er bittet Dich ja um Verzeihung, er sagt, er hätte sich geirrt.«

»Hat er das gesagt?« fragte der Graf, die Umstehenden mit jenem mißtrauischen Blick, der den Harthörigen so eigenthümlich ist.

Man nickte, sogleich ließ St. Aignan den kleinen Mann los, hob ihm seinen Hut auf und sagte freundlich: »Es thut mir leid, Kamerad, daß ein kleines Mißverständniß zwischen uns stattgehabt, Du mußt mich nicht wieder mit meiner Taubheit aufziehen, ich kann das nicht leiden.«[89]

»Bravo!« schrien die Arbeiter.

»Kamerad!« redete St. Aignan den Geprügelten noch einmal an, »Du siehst so traurig aus, ich habe noch hundert Sous, komm, wir wollen sie zusammen vertrinken, morgen wird sich schon wieder etwas für mich finden.«

Das ließ sich der kleine Mann nicht zweimal sagen und unter dem Jubel der Uebrigen zogen beide ab.

»Wer ist das? das ist ein Mordkerl, ein guter Kerl! schade, daß er so schlecht hört!« so sprach man im Saal, der nach und nach leer wurde.

»Ich habe den jungen Mann schon gesehen,« sprach der alte Arbeiter, der vorher so unbemerkt mit dem Grafen gesprochen; »halt, jetzt weiß ich's – ich sah ihn gestern bei Madame Grisonne, es ist ein Commissionair, dessen sich die Damen sehr gern bedienen.«

»Darum parfümirt er auch sein Haar und trägt glanzlederne Stiefelchen; es ist ein braver Kerl; einfältig, daß wir ihn für einen Spion halten konnten!«

Am andern Morgen saß der junge Graf St. Aignan in einem Schlafrock von blauem Sammt in seinem reich geschmückten Boudoir. Seine Hand ist fest, sein Ansehen unverändert, obgleich er erst vor einer[90] Stunde aus einer erbärmlichen Schenke zurückgekehrt ist, in der er die ganze Nacht mit den Arbeitern gezecht hat.

Er hat schon einige Briefe geschrieben, jetzt beginnt er zu siegeln und klingelt.

Ein eleganter Kammerdiener im schwarzen Frack tritt ein.

»Hier nehmen Sie diese Briefe, Maurice,« spricht der Graf, »diesen an den Vicomte Chateaubriand besorgen Sie persönlich, diesen an den Herzog von Escar senden Sie durch einen alten Diener in gestickter Livrée, gepudertem Haar und Tressenhut, diesen an den Grafen Rambuteau kann ein gewöhnlicher Laquai tragen, dieser an den Minister des Innern wird durch meinen Secretair übergeben, diese übrigen geben Sie auf die Post.«

»Zu Befehl, Herr Graf, der Mann, den Sie den Morgenstern nennen, ist draußen!« entgegnete Maurice mit Verbeugung.

»Lassen Sie den Morgenstern aufgehen!« sagte der Graf lächelnd zu dem verschwindenden Kammerdiener.

Nach einigen Augenblicken trat ein Mann in's Zimmer, der die Kleidung eines achtbaren Bürgers trug und sich auf einen großen Regenschirm stützte.[91]

An den kleinen, häßlichen, grauen Augen in dem aufgedunsenen Gesichte erkennen wir den alten Arbeiter wieder, der im Verlauf der vorigen Nacht den Grafen St. Aignan zu einem Commissionair gemacht hatte.

»Setzen Sie sich, mein Herr!« antwortete der Graf auf die zahlreichen Verbeugungen des ehrlichen Mannes und deutete auf einen Stuhl, der seinem Tisch gegenüber stand.

Der alte Mann nahm ruhig, seinen Regenschirm zwischen den Knieen, auf dem angewiesenen Stuhle Platz.

»Was war's gestern noch im Saal?« fragte der Graf.

»Nichts, mein Herr Graf, man ging nach Hause und hielt Sie für einen Damencommissionair; Sie haben gestern ein Meisterstück gemacht!«

»Gut! Sie sprechen spanisch, mein Herr?«

»Vollkommen; ich diente unter der Fremdenlegion.«

»Sie werden von nun an streng-legitimistische Grundsätze haben; Sie haben in Spanien für Don Carlos gefochten, sind hier einst Bedienter der Frau Herzogin von Berry gewesen, Sie sind mit dem Herzoge von Angoulème nach Deutschland gegangen, haben aber in Folge eines Verdrusses mit einem Kammerherrn den Abschied genommen; Sie verstehen mich?« –[92]

»Vollkommen, Herr Graf!«

»Sie werden nach Deutschland gehen, werden einige Zeit in Berlin verweilen, werden dort zufällig die Bekanntschaft des Generals Aurinia machen, in dessen Dienste treten, werden darin verbleiben, so lange sich der General in Deutschland aufhält, werden mir Berichte machen über Alles von Wichtigkeit und sonst überhaupt nach meinen Instructionen handeln. Bis Mitte nächsten Sommers hat der General sicher Europa verlassen, Sie können dann hierher zurückkehren und den Rest von fünfundzwanzigtausend Franks in Empfang nehmen, von denen ich Ihnen hier zehntausend Voraus zahle.«

Der alte Mann nahm ohne eine Miene zu verziehen die zehntausend Franks in Papier und sagte: »Ich werde in einer Stunde abgereis't sein; die Addresse ist die gewöhnliche, der General ist X, ich bin Y; ich empfehle mich Ihnen, Herr Graf!«

»Adieu!« antwortete St. Aignan gleichgültig und band eine Rolle Papiere zusammen.

Am Abend dieses Tages finden wir den vielgewandten Sohn Rafaëla's und des Grafen Vavel de Versey, denn der ist der junge Mann, den wir unter dem Namen eines Grafen von St. Aignan kennen[93] gelernt haben, in dem Boudoir einer berühmten Sängerin von der großen Oper.

Mit der ächten, vornehm sein sollenden, Unverschämtheit, durch welche sich der moderne Lion, der französische Elegant unserer Tage eben so vortheilhaft auszuzeichnen glaubt, wie sich einst der Petit-maitre einer verschwundenen Zeit durch seinen Anstand, durch artige, wenn auch oft lächerlich übertriebene Galanterie, wirklich auszeichnete – mit der ächten, unverschämten Löwenhaftigkeit hatte sich der Graf St. Aignan auf das Sopha seiner Geliebten gelegt, zerriß mit den Sporen den Damastüberzug, zaus'te den Wachtelhund bei den Ohren und öffnete den Mund nur, um zu gähnen.

»Aber, Charles!« rief die Operndame, eine ganz hübsche, aber unbedeutende, Brünette, indem sie vor dem Spiegel kokettirte, »aber Charles, Sie sind unausstehlich, sagen Sie doch etwas; seit Sie aus Deutschland zurück sind, ist's nicht mehr auszuhalten mit Ihnen!«

»Ich bin Ihrer überdrüßig, Madelaine!« erwiederte der Graf ganz ungenirt und bekräftigte seine Behauptung durch ein gewaltiges Gähnen.[94]

»So!« erwiederte die Theaterprinzessin, nicht im Mindesten empfindlich, »Sie sind meiner überdrüßig, ich Ihrer ebenfalls, verständigen wir uns; geh' Du linkwärts, laß mich rechtwärts gehn!« trällerte sie.

»Geht nicht, Madelaine!« sprach St. Aignan das Wachtelhündchen so heftig am Ohre zupfend, daß es ein Schmerzgeheul ausstieß. »Das fette Geldfaß, der Börsenspeculant, ich habe seinen plebejen Namen vergessen, macht Ihnen die Cour, man würde sagen, er habe mich überboten bei Ihnen und das würde meinem Credit schaden, Sie sehen also, Madelaine, daß Sie sich noch eine Weile bei mir glücklich fühlen müssen!«

»Ein Glück ohne Gleichen, Charles!« lachte die Dame, »Sie kommen blos zu mir um zu gähnen, ich glaube Sie schlafen?«

»Ich, ich bin sehr müde!« brummte der Graf.

»Stehen Sie auf, Charles, führen Sie mich in meine Loge.«

»Ziehen Sie sich nur erst an, Madelaine und lassen Sie mich in Ruhe; in Ihrer verdammten Loge kann man so kein Auge zuthun!«

»Aber Charles, nicht ich, sondern Sie haben ja die Loge gewählt!«[95]

»Ja doch, das war damals, machen Sie nur, machen Sie große Toilette!« erwiederte der moderne Liebhaber ungeduldig.

Die Leser werden nun ein Bild von dem Wesen des Grafen St. Aignan haben.[96]

Quelle:
Hesekiel, George: Faust und Don Juan. Aus den weitesten Kreisen unserer Gesellschaft, Teil 2, Altenburg 1846, S. 77-97.
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