40

[198] New York, 14. Juni.


Seit Tagen habe ich die Empfindung, als liesse die ganze Welt sich treiben, ohne zu wissen wohin, als laste Umheimliches, Undurchdringliches auf ihr. Und die heutigen Telegramme sind wie ein Zerreissen des Schleiers – wie wenn bei Schiffahrt im Nebel plötzlich ein Felsen in drohender Nähe auftaucht.

»Gesandtschaftsmitglieder in P. attackiert, die englische Sommergesandtschaft zerstört, Prinz Tuan und andere Fremdenfeinde in das Tsungli-Yamen ernannt.«

Und nur die ganz kleinen Gesandtschaftswachen! Was können die ausrichten, wenn es ernst wird?

Heute steht ein Telegramm vom amerikanischen[198] Gesandten in Peking in den Zeitungen; er bittet um 2000 Mann. Aber wann können die dort sein?

Ich muss immerwährend an Hofer denken. Man solle Kavallerie in der Nähe bereit halten, das sei das Wichtigste, sagte er. Ach wie recht hatte doch dieser streitbare Kirchenmann!

Er und manch andere Missionare und auch die China-Association in Hongkong haben gewarnt, und schon in den Schanghaier Märzzeitungen stehen eindringliche Artikel über eine grosse kommende Gefahr. Es ist als hätte alle Welt das Unheil nahen sehen, nur nicht die eigens dazu aufgestellten Schildwachen.

Unbeachtet sind die Warnrufe verhallt. Man wollte sich im bequemen, tatenscheuen optimistischen Glauben, dass ja alles ganz gut stände und die Welt ein netter behaglicher Aufenthaltsort sei, nicht stören lassen, wollte Weitläufigkeiten, Parteinahmen und Einmischungen vermeiden, und in der grossen Sehnsucht nach Ruhe alle dem aus dem Wege gehen, wodurch neue Aktenrubriken entstehen können.

Und besondere Umstände kamen noch dazu. Die Amerikaner sagen es selbst in ihren Zeitungen, dass sie nicht in der Lage seien, Landtruppen nach China zu senden, weil sie sie in den Philippinen brauchen. Die Engländer haben gerade genug mit[199] den Buren zu tun. »Unsere Zähne sind leider in Afrika«, hat ihr grosser Mann geantwortet, als man neulich in ihn drang, den Chinesen die Zähne zu zeigen. Die Franzosen haben auch ein besonderes Interesse daran, dass es in China ruhig bleibt, denn in Ausstellungsjahren soll immer alles eitel Glück und Freude sein. Ausstellungen sind für Völker, was Verlobungen im Familienkreise sind; da stellt man sich auch an, als sei alles herrlich und schön, alle Fehden werden für ein Weilchen begraben und man tut so, als sei Grund zu allgemeiner Freude.

Aber die dunkeln, unerforschten Kräfte, die uns treiben, die unerbittliche Schicksalsmacht, die über uns steht und das werden lässt, was wir nachher Geschichte nennen, – die kehren sich nicht an Völker – und Familienfeste, nehmen keine Rücksicht auf das müde Ruhebedürfnis alternder Geschlechter – die führen uns unaufhaltsam weiter, wir wissen nicht wohin – und im dichten Nebel ragen dann plötzlich vor uns drohende Felsen aus dem Meere empor.

Quelle:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 198-200.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe, die ihn nicht erreichten
Briefe, Die Ihn Nicht Erreichten
Der Tag anderer. Von der Verfasserin der, Briefe, die ihn nicht erreichten