Schönheit

[58] Sappho an Chloe.


Freundin!

Arme, törichte Blume!

Wie du leuchtest für ihn.

Der dich zerwühlt, dich welkt.


Sieh, so einen Mann.

Den Knecht da!

Sein lautes rennendes Treiben.

Könnten wir so sein?

Nur ein Weib wandelt.

Es ist, und Schönheit weilt von dannen.

Rote Lockenährchen machen sich auf.


Duftet mein Blut dir auch wie mir deines?

Nein, Chloe.

Das tut es nicht

Du kennst nicht die Schönheit und ihre Sehnsucht,

Der Blumen suchenden Maienwind,

Du kennst ihn nicht.

Du durchstreifst mich ohne Seele.

Du glühst wo anders hin.

Pfui, schäme dich!

Du meine Entartete!

Wie anders könnte ich dich fühlen, du meine Verlaufene!

Hör': glücklich gleich den Göttern erscheint der Mann mir,

Der darf gegenüber dir sitzen ganz nahe

Dein lippenzwitscherndes Plaudern dir ablauschen,

Seelenanglühendes.


Quelle:
Peter Hille: Gesammelte Werke. Berlin 1916, S. 58-59.
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