Zwölfte Szene

[359] NEUHOFF tritt ein. Guten Abend, Graf Bühl. Ich war so unbescheiden, nachzusehen, ob Sie zu Hause wären.

HANS KARL. Sie kennen meinen Neffen Freudenberg?

STANI. Wir haben uns getroffen.


Sie setzen sich.


NEUHOFF. Ich sollte die Freude haben. Ihnen diesen Abend im Altenwylschen Hause zu begegnen. Gräfin Helene hatte sich ein wenig darauf gefreut, uns zusammenzuführen. Um so schmerzlicher war mein Bedauern, als ich durch Gräfin Helene diesen Nachmittag erfahren mußte, Sie hätten abgesagt.

HANS KARL. Sie kennen meine Kusine seit dem letzten Winter?

NEUHOFF. Kennen – wenn man das Wort von einem solchen Wesen brauchen darf. In gewissen Augenblicken gewahrt man erst, wie doppelsinnig das Wort ist: es bezeichnet das Oberflächlichste von der Welt und zugleich das tiefste Geheimnis des Daseins zwischen Mensch und Mensch.

HANS KARL UND STANI wechseln einen Blick.[359]

NEUHOFF. Ich habe das Glück, Gräfin Helene nicht selten zu sehen und ihr in Verehrung anzugehören.


Eine kleine, etwas genierte Pause.


NEUHOFF. Heute nachmittag – wir waren zusammen im Atelier von Bohuslawsky – Bohuslawsky macht mein Porträt, das heißt, er quält sich unverhältnismäßig, den Ausdruck meiner Augen festzuhalten: er spricht von einem gewissen Etwas darin, das nur in seltenen Momenten sichtbar wird – und es war seine Bitte, daß die Gräfin Helene einmal dieses Bild ansehen und ihm über diese Augen ihre Kritik geben möchte – da sagt sie mir: Graf Bühl kommt nicht, gehen Sie zu ihm. Besuchen Sie ihn, ganz einfach. Es ist ein Mann, bei dem die Natur, die Wahrheit alles erreicht und die Absicht nichts. Ein wunderbarer Mann in unserer absichtsvollen Welt, war meine Antwort – aber so hab ich mir ihn gedacht, so hab ich ihn erraten, bei der ersten Begegnung.

STANI. Sie sind meinem Onkel im Felde begegnet?

NEUHOFF. Bei einem Stab.

HANS KARL. Nicht in der sympathischsten Gesellschaft.

NEUHOFF. Das merkte man Ihnen an, Sie sprachen unendlich wenig.

HANS KARL lächelnd. Ich bin kein großer Causeur, nicht wahr, Stani?

STANI. In der Intimität schon!

NEUHOFF. Sie sprechen es aus, Graf Freudenberg, Ihr Onkel liebt es, in Gold zu zahlen; er hat sich an das Papiergeld des täglichen Verkehrs nicht gewöhnen wollen. Er kann mit seiner Rede nur seine Intimität vergeben, und die ist unschätzbar.

HANS KARL. Sie sind äußerst freundlich, Baron Neuhoff.

NEUHOFF. Sie müßten sich von Bohuslawsky malen lassen, Graf Bühl. Sie würde er in drei Sitzungen treffen. Sie wissen, daß seine Stärke das Kinderporträt ist. Ihr Lächeln ist genau die Andeutung eines Kinderlachens. Mißverstehen Sie mich nicht. Warum ist denn Würde so ganz unnachahmlich? Weil ein Etwas von Kindlichkeit in ihr steckt. Auf dem Umweg über die Kindlichkeit würde Bohuslawsky vermögen, einem Bilde von Ihnen das zu geben, was in unserer[360] Welt das Seltenste ist und was Ihre Erscheinung in hohem Maße auszeichnet: Würde. Denn wir leben in einer würdelosen Welt.

HANS KARL. Ich weiß nicht, von welcher Welt Sie sprechen: uns allen ist draußen soviel Würde entgegengetreten –

NEUHOFF. Deswegen war ein Mann wie Sie draußen so in seinem Element. Was haben Sie geleistet, Graf Bühl! Ich erinnere mich des Unteroffiziers im Spital, der mit Ihnen und den dreißig Schützen verschüttet war.

HANS KARL. Mein braver Zugführer, der Hütter Franz! Meine Kusine hat Ihnen davon erzählt?

NEUHOFF. Sie hat mir erlaubt, sie bei diesem Besuch ins Spital zu begleiten. Ich werde nie das Gesicht und die Rede dieses Sterbenden vergessen.

HANS KARL sagt nichts.

NEUHOFF. Er sprach ausschließlich von Ihnen. Und in welchem Ton! Er wußte, daß sie eine Verwandte seines Hauptmanns war, mit der er sprach.

HANS KARL. Der arme Hütter Franz!

NEUHOFF. Vielleicht wollte mir die Gräfin Helene eine Idee von Ihrem Wesen geben, wie tausend Begegnungen im Salon sie nicht vermitteln können.

STANI etwas scharf. Vielleicht hat sie vor allem den Mann selbst sehen und vom Onkel Kari hören wollen.

NEUHOFF. In einer solchen Situation wird ein Wesen wie Helene Altenwyl erst ganz sie selbst. Unter dieser vollkommenen Einfachheit, diesem Stolz der guten Rasse verbirgt sich ein Strömen der Liebe, eine alle Poren durchdringende Sympathie: es gibt von ihr zu einem Wesen, das sie sehr liebt und achtet, namenlose Verbindungen, die nichts lösen könnte, und an die nichts rühren darf. Wehe dem Gatten, der nicht verstünde, diese namenlose Verbundenheit bei ihr zu achten, der engherzig genug wäre, alle diese verteilten Sympathien auf sich vereinigen zu wollen.


Eine kleine Pause.


HANS KARL raucht.

NEUHOFF. Sie ist wie Sie: eines der Wesen, um die man nicht werben kann: die sich einem schenken müssen.


Abermals eine kleine Pause.
[361]

NEUHOFF mit einer großen, vielleicht nicht ganz echten Sicherheit. Ich bin ein Wanderer, meine Neugierde hat mich um die halbe Welt getrieben. Das, was schwierig zu kennen ist, fasziniert mich; was sich verbirgt, zieht mich an. Ich möchte ein stolzes, kostbares Wesen, wie Gräfin Helene, in Ihrer Gesellschaft sehen, Graf Bühl. Sie würde eine andere werden, sie würde aufblühen: denn ich kenne niemanden, der so sensibel ist für menschliche Qualität.

HANS KARL. Das sind wir hier ja alle ein bißchen. Vielleicht ist das gar nichts so Besonderes an meiner Kusine.

NEUHOFF. Ich denke mir die Gesellschaft, die ein Wesen wie Helene Altenwyl umgeben müßte, aus Männern Ihrer Art bestehend. Jede Kultur hat ihre Blüten: Gehalt ohne Prätention, Vornehmheit gemildert durch eine unendliche Grazie, so ist die Blüte dieser alten Gesellschaft beschaffen, der es gelungen ist, was die Ruinen von Luxor und die Wälder des Kaukasus nicht vermochten, einen Unstäten, wie mich, in ihrem Bannkreis festzuhalten. Aber, erklären Sie mir eins, Graf Bühl. Gerade die Männer Ihres Schlages, von denen die Gesellschaft ihr eigentliches Gepräge empfängt, begegnet man allzu selten in ihr. Sie scheinen ihr auszuweichen.

STANI. Aber gar nicht, Sie werden den Onkel Kari gleich heute abend bei Altenwyls sehen, und ich fürchte sogar, so gemütlich dieser kleine Plausch hier ist, so müssen wir ihm bald Gelegenheit geben, sich umzuziehen.


Er ist aufgestanden.


NEUHOFF. Müssen wir das, so sage ich Ihnen für jetzt adieu, Graf Bühl. Wenn Sie jemals, sei es in welcher Lage immer, eines fahrenden Ritters bedürfen sollten, Schon im Gehen. der dort, wo er das Edle, das Hohe ahnt, ihm unbedingt und ehrfürchtig zu dienen gewillt ist, so rufen Sie mich.


Hans Karl, dahinter Stani, begleiten ihn. Wie sie an der Tür sind, klingelt das Telephon.


NEUHOFF. Bitte, bleiben Sie, der Apparat begehrt nach Ihnen.

STANI. Darf ich Sie bis an die Stiege begleiten?[362]

HANS KARL an der Tür. Ich danke Ihnen sehr für Ihren guten Besuch, Baron Neuhoff.

NEUHOFF UND STANI ab.

HANS KARL allein mit dem heftig klingelnden Apparat, geht an die Wand und drückt an den Zimmertelegraph, rufend. Lukas, abstellen! Ich mag diese indiskrete Maschine nicht! Lukas!


Das Klingeln hört auf.


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 2–5: Dramen, Band 4, Frankfurt a.M. 1979, S. 359-363.
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