Erster Auftritt


[285] Kreuzgang im Kloster. Im Hintergrund die Eingangspforte.

Zur Rechten Eingang ins Klosterinnere.

Pförtner schließt hinten auf. König Basilius und Höflinge treten ein. Ein Bettler kommt hinter ihnen herein.


KÖNIG. Ist dies der Ort, wo der Bruder Ignatius die empfängt, die mit einem Anliegen zu ihm kommen?

PFÖRTNER. Hier stellt euch hin und wartet alle.

JUNGER KÄMMERER. Vorwärts du, und melde wie ich dir sagen werde.

PFÖRTNER. Ich darf nicht melden. Das ist nicht meines Amtes. Meines Amtes ist Aufschließen, Zuschließen.

JÜNGER KÄMMERER. Weißt du, wer vor dir steht?

PFÖRTNER. Weiß nichts. Darfs nichts wissen. Ist nicht meines Amtes. Diesen kenne ich. Weist auf den Bettler, tritt zu diesem. Stell dich daher. Daß er dich sieht. Er wird sich freuen, daß du wiedergekommen bist.


Bettler stellt sich schweigend abseits.


JUNGER KÄMMERER. Hier steht die Majestät von Polen, unser aller König und Herr! Hörst du mich, Torwart?

KÖNIG. Laß. – Dies ist ein schwerer Gang. Ich will die Vettern, die ihn mit mir getan haben, über alle Woiwoden, Palatine und Ordinaten erhöhen.


Die Höflinge neigen sich.

Junger Bruder tritt von rechts heraus; schön, leise, mit einem beständigen Lächeln. Kämmerer tritt hin, redet leise mit ihm.


JUNGER BRUDER sieht auf den König, tritt dann auf den König und die Höflinge zu, neigt sich ein wenig. Mir geziemt nicht, die Namen zu kennen. Ich habe ihm zu melden: es ist ein Mann da, in großer Not – oder: es ist ein Weib mit ihren Söhnen von dort und dort – oder: es ist ein Kranker da und bittet um deinen Segen.


Neigt sich, tritt nach der andern Seite.
[285]

HÖFLINGE unter sich, halblaut. Ist das erhört! der hochmütige, satanische Gleisner! ist solches erlebt worden!

JUNGER BRUDER lächelt. Seiet leise!

KÖNIG. Schläft er so früh am Tag, daß man ihn nicht stören darf?

JUNGER BRUDER. Gegen Morgen, wenn die Sterne bleich werden, erst dann schläft er ein, in seinem hölzernen Sarg, und wenn die Vögel sich rühren, ist er wieder wach. Tritt zum Bettler, der betet, das Gesicht in den Händen. Was begehrst du?


Bettler regt sich nicht.


PFÖRTNER. Es ist der ohne Namen, der herumzieht von einer heiligen Stätte zur andern und Winter und Sommer übernachtet auf den steinernen Stufen der Kirchen. Er hat schon einmal mit ihm gesprochen. Er hat zu ihm gesagt: bist du denn der wiedererstandene heilige Hilarius, oder der auf die Welt zurückgekehrte selige Abt Makarion?

BETTLER nimmt die Hand von den Augen und man sieht, daß eines seiner Augen ausgestochen ist. Unwert!

PFÖRTNER. Jetzt kommt er von der Heiligen Jungfrau auf dem Weißen Berge. Verlaufene Soldaten, wie es jetzt überall gibt, wollten in die Kirche einbrechen und das schwarze Bild stehlen, das leuchtet von Edelsteinen stärker als eine Lampe. Er lag auf der Schwelle, sie stießen an ihn, da schrie er und die Mönche konnten die Kirche verrammeln und es abwehren. Dafür schlugen ihn die Soldaten so lange, bis sie ihn für tot hielten. Ein Auge haben sie ihm auch ausgeschlagen. Er aber hat ihnen vergeben und betet für sie.

BETTLER. Unwert!


Stellt sich hinter die Höflinge.


PFÖRTNER. Die Hellebarde ist aus der Hand des Wächters genommen und in die Hand des Räubers gegeben. Was soll da aus uns werden?

JUNGER BRUDER lächelt. Das schützende Kleid ist hinweggenommen, so sind wir nackend, wie es sich geziemt zur Züchtigung.

KÖNIG. Melde! melde, es ist einer da, Basilius, und in großer Not und sein Anliegen ist dringend.[286]

JUNGER BRUDER neigt sich. Er wird bald kommen. Gedulde sich die Herrschaft. Geht rechts hinein.

EIN DUMPFER GESANG wird hörbar. Tu reliquisti me – et extendam manum meam et interficiam te!

KÖNIG tut einen Schritt vor, sieht nach oben. Heut ist St. Aegydi Tag: da geht der Hirsch in die Brunft. – Ein schöner, heller Abend: die Elstern fliegen paarweise vom Nest ohne Furcht für ihre Jungen und der Fischer freut sich: sie laichen bald, aber sie sind noch begierig und springen im frühen nebligen Mondschein, ehe es noch Nacht ist. Es bleibt lange noch schußlicht, zwischen dem Fluß und dem Wald, und groß und fürstlich tritt der Hirsch aus dem Holz, und löst die Lippen, daß es scheint als ob er lache, und schreit machtvoll, daß die Tiere im Jungholz ihre zitternden Flanken aneinanderdrücken vor Schreck und Verlangen. – Wir waren wie er und haben majestätische Tage genossen ehe das Wetter umschlug, und den schönen Weibern lösten sich die Knie beim Laut Unseres Kommens, und wo Wir beliebten einzutreten, da beschien der silberne Leuchter oder der rosige Kienspan die Vermählung Jupiters mit der Nymphe. Er stützt sich auf den jungen Kämmerer. Und diesem schien kein Ende gesetzt, denn Unsere Kräfte waren fürstlich. – Nun aber ist seit Jahr und Tag die Hölle los gegen Uns, und es lauert eine Verschwörung gegen Unser Glück unter Unseren Füßen und über Unseren Haaren, die sich sträuben, und Wir können die Rädelsführer nicht greifen. Wir wollen dahin und dorthin, und Unsere Gewalt befestigen, und es ist wie wenn der Boden weich würde und Unsere marmornen Schenkel ins Leere sänken. Die Mauern wanken von den Grundfesten aus und Unser Weg ist ins Nicht-mehr-gangbare geraten.

EINER DER HÖFLINGE ein Greis, tritt neben ihn. Es ist ein Ding, das kauft die anderen Dinge und so ist es der König über die Dinge: darum ist ihm dein Gesicht aufgeprägt und dein königliches Wappen und die Leute lieben es und nennen es: das gute Geld. Aber wo ist das gute Geld hin? Wie ist es aus[287] dem Land hinausgelaufen und mit ihm der Gehorsam? Denn – wo kein Lohn ist, da ist keine Ehrfurcht; und wo keine Ehrfurcht ist, da ist kein Gehorsam.

EIN ANDERER. Das haben die feisten Bürger in den Städten verschuldet, die Pfeffersäcke und Wollkratzer und Leimsieder, die aus dem Krieg Nutzen gezogen haben, nicht zehn für hundert, nein hundert für zehn, und über alles die Juden, diese stinkenden Vampire: sie haben dem Land das Mark aus den Knochen geschlürft. Sie haben aus dem Geld das Silber herausgesogen, und in unseren Händen das rote stinkige Kupfer gelassen, dessengleichen sie als Haar auf den Köpfen tragen, die Judasse!

EIN DRITTER tritt von hinten hinzu. Sie liegen auf königlichen Schuldverschreibungen, wie auf Gansdaunen, ihr stinkender Fuchsbau ist tapeziert mit Pfandscheinen von Grafen und Bannerherren – und wenn du ihrer zehntausend in deine Hände nimmst, über die du einen eisernen Handschuh gezogen hast, und pressest sie in deiner Hand, bis sie ausgepreßt sind, so wird Blut und Schweiß auf die Erde fließen und die Äcker werden wieder fruchtbar werden und aus den Ähren wird das Gold und Silber fallen auf die polnische Erde.

DER ZWEITE. Lasse die Königliche Majestät uns reiten mit unseren getreuen adeligen Vasallen gegen die Juden und Judenknecht, die hinter Pfählen sitzen, gegen Aufrührer, entlaufene Mönch, entsprungene Schullehrer, und in sie arbeiten mit soviel Schwertern, Piken, Kolben, als uns noch in unseren fürstlichen Händen verblieben sind – ehe es zu spät wird.

KÖNIG. Ich kann das Geschmeiß nicht greifen. Ich reite an: sie sind Bettler. Aus abgedeckten Hütten kriechen sie mir entgegen und recken abgezehrte Arme gegen mich. Die Wälder, in denen ich jage, sind voller Bettler: sie fressen die Rinde von den Bäumen und stopfen sich die Bäuche mit Klumpen Erde. Er schaut vor sich, der Kopf fällt ihm nachdenklich auf die Brust. Auch dies war in der Prophezeiung: es waren Dinge in der Prophezeiung, die kein Mensch für möglich gehalten hätte,[288] und sie fangen an, möglich zu erscheinen! Es waren Greuel darin, von denen jeder gesagt hätte, daß sie nur könnten bildlich gemeint sein, und sie fangen an im wörtlichen Verstande einzutreffen. Der Hunger ist in der Prophezeiung; die Seuche ist in der Prophezeiung; die Finsternis, erleuchtet von brennenden Dörfern – der Soldat, der die Fahn abreißt und seinem Oberen die Pferdehalfter ums Maul schlägt, der Bauer, der vom Pflug läuft und seine Sense umnagelt zur blutigen Pike, die Kometen, die Erde, die sich spaltet, die Haufen herrenloser Hunde, die Raben, kreisend Tag und Nacht überm blachen Feld – es ist alles in der Prophezeiung. Leise für sich. Ich habe das Pergamen mit eigenen Händen verbrannt bei verriegelten Türen, aber die Zeilen, wie ich sie habe sich abkräuseln sehen in Zunder, so brennen sie auf in meiner Brust unter der Herzgrube, ob ich lieg oder geh oder stehe. Er seufzt tief auf, der andern vergessend. Nun kommen die Hauptstück: daß die Sonn ausgeht am hellen Tag über einer großen Stadt – nein! zuvor geschieht, daß die Rebellion ihre Fahne bekommt: das ist ein Bündel klirrender, zerrissener Ketten an einer blutigen Stange, und der dem sie vorangetragen wird, das ist mein leiblicher Sohn, mein einziges Kind, den ich gewonnen habe in rechtmäßiger Ehe – und sein Gesicht ist wie eines Teufels Gesicht wiedergeboren aus dem höllischen Feuer, und er ruht nicht bis er mich findet und seinen Fuß auf mein Genick setzt. Ich höre meinen Kopf, der auf die Erde aufschlägt! und er tritt auf mein Gesicht und drückt mich hinein, bis ich Erde fresse und die Erde mich frißt – so geschiehts am hellichten Tage und die Sonne geht aus vor Grausen – so prophezeit! wortwörtlich! da! punktweise geschrieben, wie ich es spreche! Er stöhnt und besinnt sich dann, blickt zurück auf sein Gefolge. Ich bin sehr krank, meine Getreuen! Ich hoffe, ihr habt mich zu einem Arzt begleitet, der mir helfen kann.

DER ALTE HÖFLING dicht bei seinem Ohr. Entsinne sich mein gnädiger Herr der Schärfe des Blickes, dem im Staatsrat der verschlungenste Knoten sich löste –[289]

KÖNIG. Ich will nicht an seinen Blick denken! Seine Augen gehen wie die Augen des Greifen durch und durch und das Eingeweide hält ihnen nicht stand. Er richtet sich auf, seine Stimme verändert sich. Wir sind noch König in Polen! Wir wollen jetzt, wo nicht sogleich Unserem Wunsch willfahrt wird – so werden Wir diesem Mönchsloch den Rücken kehren und reiten, wohin Unserem Adlerblick zu reiten gelüstet!


Der Großalmosenier wird von rechts herausgeführt. Zwei Mönche stützen ihn. Der junge Mönch von früher schreitet daneben, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand; ein Laienbruder folgt, der einen Faltstuhl trägt. Sie stellen den Faltstuhl hin und lassen den Großalmosenier drauf nieder. Er ist ein neunzigjähriger Greis; seine Hände und sein Gesicht sind gelblich weiß, wie Elfenbein. Die Augen hält er meist geschlossen, doch wenn er sie öffnet, so vermag ihr Blick noch Schreck und Ehrfurcht zu verbreiten. Er trägt das Habit der

einfachen Mönche. Alle sind von seinem Eintreten an still.


DER GESANG wird deutlich hörbar, eine einzige drohende Stimme. Ecce ego suscitabo super Babyionem quasi ventum pestilentem. Et mittam in Babyloniam ventilatores et ventilabunt eam et demolientur terram eius.

GROSSALMOSENIER mit halbgeöffneten Augen. Hier ist, was sie das Licht des Tages nennen. Eine fahle Finsternis. Lies aus dem Guevara. Hier ist ein Blumengarten – ein Gallert, bunt und stinkig. Er schließt die Augen.

CHOR. Et demolientur terram eius! Et cadent interfecti in terra Chaldaeorum.

JUNGER BRUDER liest aus dem Buch. Fahr hin, Welt, denn auf dich ist kein Verlaß, dir ist nicht zu trauen; in deinem Haus weset das Vergangene nur mehr als ein Gespenst, das Gegenwärtige zergeht uns als ein morscher und giftiger Pilz unter den Händen, das Zukünftige pochet immer an als eine Räuberfaust um Mitternacht, und in hundert Jahren schenkst du uns kaum eine Stunde wahrhaftigen Lebens.

GROSSALMOSENIER. Nicht eine Stunde wahrhaftigen Lebens! Er schlägt die Augen auf, gewahrt den Bettler, winkt ihm lebhaft.[290] Sieh da, welch ein Gast ist über unsere Schwelle getreten! König beziehts auf sich, will vortreten, Großalmosenier ohne ihn anzusehen winkt ihm verächtlich ab, wie einer eine Fliege scheucht.

HÖFLINGE fahren auf. Ha!


König winkt ihnen sich zu bezähmen.


GROSSALMOSENIER zu dem Bettler in gespannter Teilnahme. Wie geht es dir, mein Teurer? und woher lenkt sich dein Schritt? und wirst du nun bei uns bleiben, zumindest einen Tag und eine Nacht?

BETTLER. Sorget nicht für den Tag, den ihr den morgenden nennt, denn vor dem Herren ist kein solcher, sondern alles steht vor ihm als ein Augenblick, unteilbar.

GROSSALMOSENIER zu den Mönchen. Horchet auf ihn!

BETTLER schweigt.

GROSSALMOSENIER. Führet mich zu ihm, wenn er nicht zu mir kommt, daß ich ihn küsse und seinen Segen empfange.


Will auf, von den Mönchen unterstützt.


BETTLER. Unwert!


Entspringt.


CHOR. Et demolientur terram eius! Et cadent interfecti in terra Chaldaeorum.

GROSSALMOSENIER. Lies im Guevara, solange Licht ist. In der Finsternis sehe ich Gesichte: Wahrheit.

JUNGER BRUDER hebt das Buch um zu lesen. Fahr hin, Welt, in deinen Palasten dient man ohne Bezahlung –

KÖNIG tritt an den Großalmosenier heran. Herr Kardinal, der König von Polen wünscht Euch einen guten Abend.

GROSSALMOSENIER. Ich höre eine lästige Stimme, die dazwischenfährt von irgendwo. Lies weiter im Guevara.

KÖNIG tritt zwei Schritte zurück.

JUNGER BRUDER liest. Fahr hin, Welt – in deinem Palast dient man ohne Bezahlung, man liebkost, um zu töten, man erlöst, um zu stürzen, man ehrt, um zu schänden, man entlehnt, um nicht wiederzugeben, man straft ohne Verzeihen. In deinem Prunksaal ist eine Bühne aufgeschlagen, darauf spielst du vier oder fünf wüste Szenen, die sind langweilig zu schauen: da wird um Macht geschachert und um Gunst[291] gebuhlt; da werden die Klugen gestürzt, die Unwürdigen werden hervorgezogen, der Verräter mit Gnade angesehen, die Redlichen werden in den Winkel gestellt –

KÖNIG tritt abermals heran.

GROSSALMOSENIER mit geschlossenen Augen. Wer bist du, der sich vordrängt ungerufen?

KÖNIG. Ich bins!

GROSSALMOSENIER. Ich höre: Ich. Ich höre das scheußliche Wort des Hochmuts! Sehr stark. Lies laut weiter, Knabe.

JUNGER Bruder hebt das Buch, um zu lesen.

KÖNIG schlägt ihm gebietend aufs Buch. Ich, der König, trete vor meinen alten Ratgeber und klage, klage, klage die Not des Landes. Die Witwen und Waisen ringen die Hände, im Backofen ist das Feuer gelöscht, aber die Flecken und Städtlein brennen lichterloh; die Straßen kann niemand befahren vor Räubern und Mordbrennern, und die Friedhöf haben allbereits die Dörfer aufgefressen.

GROSSALMOSENIER fährt mit der Hand durch die Luft, als scheuchte er eine Fliege.

HÖFLINGE murren, wenden sich als wollten sie gehen. Unerhört! Unwürdiges Schauspiel!

KÖNIG tritt auf sie zu. Bleibet, meine Getreuen! Gehet nicht von mir!

EIN HÖFLING in Wut, aber mit gedämpfter Stimme. Man sollte ihn aus dem Sessel reißen und das Maul an die Erde drucken!

KÖNIG. Ich will den Städten ihre Freiheiten nehmen! ich will die Juden aus meinem Schutz stoßen, und alles soll in eure Hände gegeben werden, wie es zu Zeiten Unserer Vorfahren war.

HÖFLINGE beugen ihre Knie, küssen ihm Hände und Saum des Gewandes.

KÖNIG lächelt. Ah, meine Getreuen! so ist doch die befruchtende Wärme noch nicht ganz von diesen Händen gewichen!

GROSSALMOSENIER. Lies im Guevara. Ich bin müde, daß noch immer Tag ist.[292]

JUNGER BRUDER liest. – da wird der Aufrichtige in den Winkel gestellt und der Unschuldige verurteilt. Da ist für den Herrschsüchtigen Kredit und für den Redlichen ist kein Kredit. –

GROSSALMOSENIER. Schales Zeug! wie laues Wasser! Da ist – und da ist – und da ist! Mit gewaltiger Stimme, indem er sich hebt und die Arme in die Luft wirft. Nichts ist! nichts ist! nichts ist als das unerbittliche Gericht und die Sonderung der Spreu von dem Weizen.


Stille, der Gesang hat aufgehört.

Großalmosenier sinkt von der Anstrengung erschöpft im Stuhl zusammen, mit geschlossenen Augen.


KÖNIG zu den Höflingen. Tretet alle hinweg. Wendet euch ab. Es muß sein. Geht hin, fällt vor dem Großalmosenier auf die Knie. Du mußt mich hören!

GROSSALMOSENIER sieht ihn lange durchdringend an. Ich kenne den Herrn nicht! Lacht lautlos.

KÖNIG. Kardinal Großalmosenier! Großkanzler der Krone! Großsiegelbewahrer des Reiches! das erhabene Königreich liegt vor dir.

GROSSALMOSENIER lacht noch stärker, aber lautlos. Ah! sags noch einmal! Ah, was ist denn das: das erhabene Königreich?

KÖNIG. Hast du Unser Siegel geführt? Hast du Unser Richtschwert geführt? Jetzt brauchen Wir dich!

GROSSALMOSENIER. Schrei nicht eitel! Das Wort eitel hat zweierlei Sinn; einmal heißt es: prahlen vor sich selber, Zuschauer sein sich selber, geistige Buhlerei treiben mit sich selber, – zum zweiten heißt es: nichtig, für nichts, im Mutterleib verloren. – Eitel war dein Getanes, dein Gedachtes, dein Gezeugtes – von dir selber im Mutterleib vereitelt.

KÖNIG. Vater straf mich, aber verlaß mich nicht!

GROSSALMOSENIER. Vater? Das ist ein furchtbares Wort. Nimmst du wirklich das Wort in den Mund? Vergeht dir nicht die Zunge, indem sie den unausdenklichen Geschmack davon schmeckt?[293]

KÖNIG sich halb aufrichtend, leise. Ich habe meinen einzigen Sohn von mir getan, – dahin wo ihn die Sonne nicht bescheint! – Diese Tat und alle Taten habe ich getan unter deiner Gewalt. Du hast mir gezeigt: eine heilige Ordnung, gesetzt von Gott. Die heißest du mich schützen, und in ihrem Dienst waren wir verbunden.

GROSSALMOSENIER. Wo war deine Menschheit, die sich hätte verbinden können mit der meinigen? Denn ein Mensch fängt dort an, wo ein viehisch gelüstender Leib überwältigt ist und unter die Füße gebracht von Wesenheit. Das war nicht deine Sache. Dein Wollen sitzt unter dem Nabel und dein Unvermögen in der Herzgrube; unter deinen Haaren war die Bosheit, und der stinkende Hochmut ist dir durch die Nase gegangen: so warst du ein Leib und hast gewuchert mit deinem Leib, und an deinem Leib wirst du gepackt werden. Du hast ins Fruchtfleisch gebissen, das duftend war und weich: jetzt aber beißest du in Holz: dazu ist die Stunde gekommen.

KÖNIG stark, aber mit gedämpfter Stimme. Ist die böse Stunde gekommen? und ist es darum, daß du mich verlassen hast mit einer Umarmung und mich ausgeliefert hast mit einem Seitensprung, du Judas? So komme mein königliches Blut über dich, und alles Blut, das fließen wird und darin sie waten werden bis an ihre Knie!

GROSSALMOSENIER lächelt. Es steht geschrieben: der verdorbene Mensch liebt nicht den, der ihn strafet!

KÖNIG sieht ihn scharf an. Du Basilisk, daß ich aus dir herausreißen könnte die Wahrheit! denn immer hast du das Letzte vor mir verborgen, wie die boshafte Stiefmutter vor der armen Waise.

GROSSALMOSENIER. Die Wahrheit, die da ist hinter allem Scheine, wohnt bei Gott.

KÖNIG. So ist es Gott oder Satan, der durch die Sterne redet? Antworte mir!

GROSSALMOSENIER sieht ihn an.

KÖNIG. Oder lügen die Sterne?

GROSSALMOSENIER. Wer sind wir, daß sie uns lügen sollten?

KÖNIG. Aber es ist prophezeit: er wird seinen Fuß auf meinen[294] Nacken setzen, bei hellichtem Tag und im Angesichte meines Volkes.

GROSSALMOSENIER. Aber du wirst wackeln mit dem Steiß vor ihm, wie ein Hund vor seinem Herren, und wirst begehren das Schlachtermesser zu küssen mit dem er dich abtut!

KÖNIG. Verhöhnst du mich? Glaubst du nicht an die Prophezeiung? Antworte mir! Wie können sie gesehen haben, was nicht ist? wo ist der Spiegel, der auffängt, was noch nirgend gewesen ist?

GROSSALMOSENIER. Recht so! Halte dich an das, was deine Augen sehen, und ergetze dich mit Ehebrecherinnen und Jagdhunden! – Aber ich sage dir: es gibt ein Auge, vor dem ist heute wie gestern und morgen wie heute. Darum kann die Zukunft er forscht werden und es steht die Sibylle neben Salomo und der Sterndeuter neben dem Propheten.

KÖNIG vor sich. Ich war unfruchtbar, so viele Jungfrauen und Weiber ich erkannte, und es wurde gesagt: fruchtbar im Brachmond an der Königin, und meine Königin wurde guter Hoffnung im Brachmond. Es wurde gesagt: er kommt, wie einer, der die Türen einrennt, denn er ist ein Gewalttäter von Anbeginn, und das Kind wurde geboren und es zerriß der Mutter den Leib, widerstrebend der weisen Frau und dem Arzte. – Er wollte da sein, nackt aus dem Nackten, blutig aus dem Blutigen, tödlich aus dem Tödlichen, und wahrmachen die Prophezeiung vom ersten Schrei an. –

GROSSALMOSENIER. Aber es ist dein Kind, gewonnen in heiliger Ehe!

KÖNIG. Fleisch von meinem Fleisch, du sagst es!

GROSSALMOSENIER. In der Ehe, vergleichbar dem Geheimnis der Kirche zu ihrem Herrn und Meister.

KÖNIG. Und ich habe ihn nie gesehen und muß mich gegen ihn verbergen, mit Riegeln und Ketten und Spießen und Stangen!

GROSSALMOSENIER mit einem undurchdringlichen Ausdruck. Es entflieht keiner der großen Zeremonie, der König aber und der Vater ist in die Mitte gesetzt!

KÖNIG fällt abermals vor ihm nieder. Gib Uns Unser Kind zurück![295] Wir schreien mit gewundenen Händen: gib Uns Unser Kind zurück!

GROSSALMOSENIER. In Rom hab ich Theaterspielen sehen, in einem großen Saale, aber schlecht. Was sie nicht anging agierten sie mit gespreizten Leibern und schleppten gebauschtes Zeug hinter sich drein, wie Schlangenschweife. Jetzt sehe ich einen großen Schauspieler.

KÖNIG steht aufrecht, beugt sich zu dem Greis, drohend. Berate mich! Verwende dich bei Gott für mich! Gib mir das Kind wieder – oder nimm sein Blut auf dich. – Ich will Ruhe haben in meinem Gewissen – oder Ruhe in meinem Reich für den Rest meiner Tage. Eines von beiden! eines von beiden!

GROSSALMOSENIER. Wunderbar gefügt aus zweien Enden ist die Zange und sie arbeiten gegeneinander!

KÖNIG leiser. Ich habe befohlen, den Mann herzubringen, der ihn bewacht. Ich will das Kind nicht so leben wissen. Aber meine Hände sollen rein bleiben von seinem Blut. – Ich kann nicht mehr! Tritt du für mich vor Gott! Ich trete hin und her wie ein gefangenes Tier! Ich winde mich!

GROSSALMOSENIER über ihn hinweg. Auch die schlaffe Frucht unter der Zange gibt einen Tropfen Öl!

KÖNIG. Redet Gott mit zwei Zungen? Antworte mir! Lügt Gott? – Wenn ich das Geschöpf unschädlich gemacht habe in einem Turm mit Mauern, zehn Schuh dick, – und der Aufruhr soll zu keinem Haupte gelangen – zu welchem Ende ist dann der Aufruhr gekommen? Sind das Spiegelfechtereien? ist Gott wie der Herzog von Littauen, der sich aufs Blüffen legt und mit falschen Würfeln um Länder spielt? Schaff mit, daß Gott eine deutliche Sprache führt, und ich will handeln nach seinem Willen, als ein christlicher Souverän!

GROSSALMOSENIER. Gott! Gott! nimmst du das Wort in deinen nassen Mund? Ich werde dich lehren, was das ist: Gott! Du kommst zu mir um Hilfe und Erquickung – und findest, was dich nicht freut. Statt eines vertrauten Wesens, worein du wie in einen Spiegel dich hineintust, als in die Gesichter der vor dir wedelnden Menschen, findest du eine unberührte Miene, vor der dich graust. Ein Etwas spricht mit[296] meinem Mund, aber wie aus dir selbst heraus, auf dich selber zielend; es nimmt dich nicht und es läßt dich nicht los; statt daß du von einem zum andern kommst, buhlend, kommt eines ums andere zu dir: nichts Neues, nichts Altes, abgelebt, doch nicht abgelebt, – öd, lahm, doch wirbelnd. In der Mitte aber mußt du stehen, wie an einen Pfahl gebunden. – Du willst aus deiner Haut, bietest und bietest, Mord sogar bietest du an, aber vergeblich. Ganz leise ist die Hölle in dich hineingewachsen, die da heißt: Verlassen von Gott. – Da ist nichts mehr als dein Leib, den kein Leben mehr lockt. Du kannst nichts mehr, ermachst nichts mehr, bedeckt mit schwächendem Schweiß, zergehend und zugleich Stein; in nackter Not – doch nicht frei. Aber da ist noch etwas: das geht auf vor dir, als wollte es dich verschlingen – du hängst ihm überm Rachen – es verschmäht dich und läßt dich liegen. Du schreist: es ist hinter deinem Schrei und zwingt dich und heißt dich deinen Schrei hören, deinen Leib spüren, deines Leibes Schwere wiegen, deines Leibes Gebärde wahrnehmen, wie Wälzen von Schlangen mit schlagendem End, dein Zergehen einatmen, deinen Gestank riechen: Ohr hinterm Ohr, Nase hinter der Nase. Es verzweifelt hinter deiner Verzweiflung, durchgraust dich hinter deinem Grausen, und entläßt dich nicht dir selber, denn es kennt dich und will dich strafen: Das ist Gott!


Er sinkt zusammen, mit geschlossenen Augen.


KÖNIG. Deinen Rat will ich! deinen Rat!

GROSSALMOSENIER öffnet ein Auge, lacht lautlos.

KÖNIG. Ihr, meine Vasallen! Hilft mir niemand gegen diesen Satan und Verräter!


Höflinge wenden sich, tun einen Schritt gegen den Großalmosenier.


GROSSALMOSENIER richtet sich auf, starrt sie an.

KÖNIG. Heran meine Getreuen, faßt ihn an! Mein Herr Minister ist Uns Rat schuldig und will Uns sein Schuldiges veruntreuen. Ihr habet gehört, daß er noch einen gewaltigen Atem hat. Traget ihn, wenn er nicht gehen kann, in Unsere Burg! er soll im Staatsrat präsidieren! Ich will aus ihm herausholen, was zu holen ist, denn es ist Not an Mann und[297] Wir sind der anschlägigen Köpfe bedürftig! Auf und fasset!


Höflinge mit einem Sprung heran. Mönche heben abwehrend die Hände. Großalmosenier liegt wie ein Toter.


GESANG. Ecce ego suscitabo super Babylonem quasi ventum pestilentem.

EINER DER HÖFLINGE dem Großalmosenier am nächsten. Es wäre mir eine auserlesene Lust, ihn mit dem Messer in der Seite zu kitzeln bis er Eurer Majestät willfährig wäre, aber ich sehe, es ist eine halbe Leiche, und da geht mich ein Grausen an.

KÖNIG kehrt sich weg. Hebet ihn weg.


Mönche nehmen den Großalmosenier auf und tragen ihn ins Haus. Es pocht draußen.

Pförtner schließt auf, läßt den Woiwoden von Lublin eintreten und Julian, hinter ihnen Anton.


JUNGER KÄMMERER tritt auf den König zu, beugt sein Knie und meldet. Der Woiwod von Lublin.

WOIWOD tritt vor den König, beugt sein Knie. Vergebe Deine Hoheit die Verspätung. Die Straßen sind verlegt von Rebellen. Zamosk brennt. Sie haben mir ein Drittel meiner Leute vom Pferd gerissen. Wir haben uns durch die Wälder ziehen müssen. Hier bringe ich den Edelmann, der den einsamen Turm befehligt.

JULIAN tritt vor, kniet vor dem König hin.

KÖNIG. Dieser? sein Wächter? Er tritt argwöhnisch zurück.

JULIAN bleibt knien.

KÖNIG. Wir erinnern uns gnädig früherer Begegnung. Reicht die Hand zum Kuß, winkt aufzustehen. Wir sind gewärtig, dich klagen zu hören. Es ist ein tobender Simson, den wir dich bewachen hießen! Wir werden zu belohnen wissen. – Aber wir fürchten, in deinem Aug das Spiegelbild eines unnatürlich wütenden Dämons zu gewahren.

JULIAN aufstehend, aber mit gebogenem Knie. Es ist ein sanfter, schöner, wohlgeschaffener Jüngling.

KÖNIG. Voll Haß im Innern? wie ein Schwamm vollgesogen mit Gift?[298]

JULIAN. Arglos. Ein weißes unbeschriebenes Blatt.

KÖNIG. Menschlich? ein Mensch? Ah!

JULIAN. Oh! gefiele es dem undurchdringlichen Ratschluß –

KÖNIG runzelt die Stirn, tritt zurück.

JULIAN. – den Jüngling einer Prüfung zu unterziehen –

KÖNIG tritt noch einen Schritt zurück.

JULIAN. Man ließe ihn, bestünde er sie nicht, in ewiger Kerkernacht wiederum verschwinden. Für den Unglücklichen wäre es wie ein kurzer Traum mitten im dumpfen Schlaf.

KÖNIG. Der Traum einer Nacht? Kühn – und zu kühn!

JULIAN schnell. Nicht zu kühn – durch Handeln wird uns die Welt zur Welt. Er hat nie gehandelt: er kennt nur Schatten und Bilder, nur Träume!

KÖNIG. Zu kühn! Wer könnte sich verbürgen –

JULIAN. Ich! Euer Majestät für alles! mit diesem Kopf!

KÖNIG lächelt. Ein offenherziger, mannhafter Edelmann! und ein Berater! solch ein Berater! – es ist vielleicht der Ariadnefaden in der Dunkelheit des Labyrinths, den deine Hand Uns reicht – noch wissen Wir nicht, ob ihn zu ergreifen die Umstände Uns gestattet werden. Wir werden Uns bedenken. Du gibst Uns die Regsamkeit der Gedanken wieder. Ein großes Geschenk! – Er winkt ihn ganz nahe zu sich. – Wie viele Jahre waltest du des schweren Amtes?

JULIAN. Zweiundzwanzig Jahre weniger einen Monat. Sein Alter.

KÖNIG. Beispiellos! lernet, meine Großen, lernet was Hingabe ist. Dieser gute Edelmann dient Uns seit Zweiundzwanzig Jahren fern Unseren Augen an einem abgelegenen und wüsten Ort mit jedem Tropfen seines Blutes. Es rührt mich. Er wischt sich die Augen mit einem Tüchlein. Mein Herz ist schlicht und jedem Guten offen, wie eines Kindes. – Zweiundzwanzig Jahre. Wir waren vierunddreißig und Unsere Königin eine Fürstin von zwanzig Jahren, schöner und erhabener als Worte es malen können. Zweiundzwanzig Jahre![299]

JULIAN beugt sich über die dargereichte Hand, er hat gleichfalls die Tränen in den Augen. Sie sind in diesem Augenblick ausgelöscht.


Anton nähert sich von hinten, unmerklich, spitzt seine Ohren.


KÖNIG. Das Wiedersehen hat Uns sehr bewegt. Es sind deine Arme, die Unseren Verwandten betreuen. Er zieht ihn an sich, mit der Gebärde einer Umarmung. Wie würden Wir es ertragen, ihn selbst – Sein Gesicht verändert sich, aber nur für einen Moment. Wir wollen an ein teures Grab hier nahebei. Zu Julian. Unsere hochselige Königin liegt hier. – Der Pförtner soll Uns begleiten, niemand sonst. Nach einem inbrünstigen Gebet treten Wir wieder unter euch.

HÖFLINGE verneigen sich.

KÖNIG schon im Gehen, tritt noch einmal auf Julian zu. Die Nähe eines treuen Mannes, welch ein Schatz! Berater! Tröster! Du hast mir das Leben wiedergegeben. Winkt Julian vertraulich zu. Er folgt Uns an Hof Wir haben viel mit Ihm vertraulich zu beraten.


Julian neigt sich tief. König winkt dem Pförtner und verschwindet hinten zur Linken. Höflinge treten zu Julian heran. Anton trachtet unauffällig seinem Herrn immer näher zu kommen.


EINER DER HÖFLINGE unter einer leichten Verneigung. Wir sind nahe Verwandtschaft. Euer Gnaden Großmutter war meines Herrn Großvaters Schwester. Ich wollte nicht hoffen, daß Euer Gnaden dessen wäre uneingedenk worden in den Jahren, da man Sie nicht bei Hofe gesehen hat.


Anton spitzt die Ohren.


JULIAN neigt sich leicht. Wie wäre ich so großer Verwandtschaft uneingedenk worden? Ich hatte alle Zeit Muße, über meinen Stammbaum Betrachtungen anzustellen.


Anton lächelt.


EIN ZWEITER ebenso. Trete der Herr mit mir in mein Haus, in welchem Er über alle zu gebieten!

ZWEI ANDERE ebenso. Gebe der Herr uns Seine Protektion. Wir ersterben des Herrn bereitwilligste und verpflichtetste Diener![300]

JUNGER KÄMMERER an Julian herantretend, mit einer tiefen Verneigung. Bacio le ginocchia di Vostra Eccellenza!


König kommt zurück, steht rückwärts. Höflinge rangieren sich; bitten mit Gebärden Julian, einen vorzüglichen Platz in ihrer Mitte zu nehmen. Julian, indem er unter sie tritt, wirft über die Schulter einen Blick auf Anton. Anton bekreuzigt sich, wie zu Tode erschrocken.

Alle gehen.


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 2–5: Dramen, Band 3, Frankfurt a.M. 1979, S. 285-301.
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