[481] Hermine, mit einer Schreibmappe und einem Fußpolster, tritt aus dem Haus auf die Terrasse.
Theodor beobachtet sie streng, sozusagen dienstlich.
Hermine wird unter seinem Blick langsamer und tritt dann etwas unschlüssig die Stufen hinunter, sie schickt sich an, die Schreibsachen auf den Gartentisch links zu legen.
MELANIE. Ach, das sind meine Schreibsachen, auf die ich gewartet habe. Ich danke Ihnen, meine Liebe.
Theodor macht Hermine ein Zeichen, daß sie den Fußpolster nicht richtig gelegt habe. Hermine gerät in Verwirrung. Theodor eilt hin, richtet den Fußpolster anders und winkt Hermine abzutreten.
MELANIE tut einen Schritt gegen den Tisch. Ich habe sehr das Bedürfnis, der Tinka einen langen Brief zu schreiben. Sie wissen doch, Baron Jaromir – Absichtlich laut. daß die Tinka Neuwall jetzt meine beste Freundin ist.
HERMINE ist über die Terrasse abgegangen.
Theodor hat das Schreibzeug auf dem Tisch
geordnet, sich überzeugt, daß Fließpapier in der Mappe ist und zieht sich jetzt diskret zurück über die Terrasse.
MELANIE nachdem sie sich überzeugt hat, daß sie jetzt wieder allein sind, in einem anderen Ton. Wirklich, ich möchte ihr gerne[481] einen Brief schreiben, in dem ich ihr sage, daß ich zwar gerne hier bin und wir uns oft und gemütlich sehen, daß es uns aber entgegen ihren, Tinkas, pessimistischen Voraussagen ganz leicht wird, einen freundschaftlichen Verkehr in den Formen durchzuführen, deren Einhaltung ein Gebot der primitivsten Selbstachtung und Vorsicht ist.
JAROMIR. Schreib diesen Brief, schreib ihn unbedingt. Leiser. Aber zuerst komm daher.
MELANIE tritt unwillkürlich ihm näher.
JAROMIR. Schau dort hinauf. Zeigt nach oben links.
MELANIE schaut hinauf.
JAROMIR dicht bei ihr, aber ohne sie zu berühren. Siehst du dort droben das Fenster mit dem kleinen Balkon?
MELANIE. Ist das das meinige?
JAROMIR. Das ist das deinige, und dort drüben die Mansarde, das ist das meinige, und der kleine Weg zwischen beiden – dort, wo etwas Weißes liegt, jetzt hebts der Wind auf, ein Blatt Papier ist es – dort dicht unter der Turmwand, hart überm Rand der Dachrinne, dort ist der Weg, den ich heute nacht, wenn alle schlafen, zu dir komme!
MELANIE. Schwör mir, daß du nie etwas von mir in einem Roman bringst. Oder es ist wirklich aus zwischen uns!
JAROMIR. Was für Ideen du dir in den Kopf setzt!
Er faßt sie beim Handgelenk und will sie an sich ziehen.
MELANIE den Kopf von ihm weggebogen, macht sich mit einem Ruck los, fährt zugleich mit beiden Händen an ihren Hals und ruft. Meine Perlen! Mein Gott, gerissen!
JAROMIR. Was ist denn?
MELANIE die gerissene Schnur mit beiden Händen haltend. Gerissen! Und ich hab sie erst vor zwei Jahren fassen lassen! Gehen Sie weg! Bleiben Sie stehen! Keinen Schritt! Sie können auf eine treten! Sie geht zum Tisch und legt vorsichtig die gerissene Schnur ab und fängt angstvoll an zu zählen.
JAROMIR. Haben Sie alles?[482]
MELANIE zählend. Das weiß ich doch noch nicht. Dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, achtzehn ... Zu Jaromir. So gehen Sie doch fort von mir! Sehen Sie denn nicht dort drüben bei der großen Linde Ihre Mutter und den alten General, die wahrscheinlich schon alles gesehen haben? Zählt. Sechsundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig ... Zu Jaromir. So gehen Sie doch schon und sagen Sie Ihrer Mutter guten Morgen. Vierunddreißig – waren es vierunddreißig? Jetzt hab ich mich verzählt, mein Gott! Zu Jaromir. So gehen Sie doch schon!
JAROMIR ist leise, mit vorsichtigen Tritten, auf den Boden schauend, abgegangen.
MELANIE. Das auch noch. So alte Leute sind so entsetzlich weitsichtig. Zählt. Zehn, elf ... Das ist doch ein solches Unglückszeichen. Da bleibt einem doch vernünftigerweise nichts übrig als sofort abzureisen. Zählt leise weiter.
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