[491] Theodor kommt lautlos die Treppe herab und geht leise und schnell vor sie hin.
MARIE erschrickt. Sie, Franz? Faßt sich. Haben Sie etwas für mich?
THEODOR. Habe ich Sie erschreckt? Oh, da bitte ich Euer Gnaden um Verzeihung.
MARIE. Ich habe geglaubt, ein Brief, eine Nachricht für mich! Ich weiß nicht, ich bin so erschrocken.
THEODOR. Das kann ich begreifen. Sie haben durch seine Briefe sehr viel ausgestanden – und ich war der Überbringer! Schon mein Gesicht muß Ihnen unangenehm sein.
MARIE ängstlich. Franz, haben Sie einen Auftrag an mich?
THEODOR. Meinen vielleicht wieder einen solchen wie am siebzehnten April vor fünf Jahren, wo Sie in meine Arme hineingefallen sind bereits wie eine Tote? Nach einer Pause. Nein. Aber – ich erlaube mir zu bemerken, Euer Gnaden hätten nicht hierherkommen sollen.
MARIE vor sich. Da liegt der Brief, in dem ich es ausspreche.
THEODOR. Sie müssen dem Herrn Vater Aufregungen ersparen. Ich habe ihn in der Stadt gehen sehen, so vor ein paar Wochen. – Ich verstehe mich auf Gesichter –
MARIE nickt.
THEODOR. Soll das Spiel vielleicht von neuem angehen, nach einer bereits fünfjährigen Pause? – – Der Anfang war doch bereits genau so. Ich erlaube mir zu erinnern: er hat Sie wollen einem anderen abjagen, der sehr große Liebe für Sie gehabt hat! Sie sind in ahnungsloser Angst vor ihm geflüchtet![491] Leise, aber sehr entschieden. Ich habe Ihre Spur gefunden und ihm Nase darauf geführt und er mit seiner Zungenfertigkeit ohne Herz und ohne Seele hat Sie beredet und erstes folgenschweres Wiedersehen durchgesetzt!
MARIE seufzt.
THEODOR. Damals war es nicht möglich – – aber heute ist es möglich, Ihnen einen Rettungsanker zu überreichen. – – Sie sind mit einem schlechten Gewissen gekommen. Mit einer Unwahrheit gegen Ihren Herrn Vater!
MARIE. Franz, was erlauben Sie sich denn!
THEODOR zieht schnell einen Brief aus der Tasche, aus einer anderen eine kleine silberne Platte und übergibt ihr den Brief am Ende des folgenden Satzes. Ich entnehme das, indem der Herr Vater seinen täglich pünktlich besorgten Brief auf einem Umweg schickt! Haben ihm Adresse angegeben wo bis gestern waren, dieser Ausflug hierher ist ihm unbekannt geblieben.
MARIE ist aufgestanden.
THEODOR. Oh – – also der Vater sitzt jetzt zu Hause – und sein kränkliches Herz, das weiß ich doch, ist angefüllt mit Sorge um sein einziges Kind. Da denkt er sich jetzt die freundliche Zukunft von seiner verräterischen Tochter aus, als Gemahlin eines rechtschaffenen Menschen, wenn er einmal nicht mehr da sein wird. Ist das vielleicht eine Kleinigkeit, ein Vater, der dort sitzt an einem Fensterplatz, wo er vielleicht nicht mehr lange sitzen wird – und hinausschaut durchs Vorgartl auf die Straße – ob vielleicht eine gewisse Fräulein schon bald nach Hause kommt, die sein Alles ist? Aber diese Dame ist auf Abwegen befindlich und Vater schaut sich umsonst die Augen aus –
MARIE steckt den Brief zu sich, rafft ihre Sachen zusammen.
THEODOR. Ja, ja wirklich! Sie müssen fortgehen! Aber nicht nur von dieser Terrasse, den ganzen Aufenthalt müssen Sie abbrechen – augenblicklich!
MARIE. Ja, ich habe schon ohnehin fort wollen. Ich werde alles – – schreiben.
THEODOR. Ah, Briefel, damit er wieder Briefel schreibt. O[492] nein! Ohne Briefel! Sie sind doch keine Madame Melanie! Er kann ja nicht leben, scheint es, wenn er nicht zwischen Ihnen beiden abwechselt. Dieses doppelte Gespiel hat ja einen ausprobierten Reiz für ihn.
MARIE mit der letzten Kraft. Das ist eine boshafte Lüge! Ein Zufall, an dem ich schuld bin! daß diese Dame und ich gleichzeitig hier sind!
THEODOR lächelnd. Oh, Sie sind ein guter auf sich nehmender Engel. Leiser. Er ist doch Ihr Feind! Hat er Sie nicht an Gott und der Welt verzweifelt gemacht? Sagen Sie es!
MARIE. Woher wissen Sie diese Dinge?
THEODOR. Das wird schwer zu wissen sein! Er wird jetzt kommen. Treten Sie vor ihn hin und machen Sie sich frei von ihm auf ewig, sagen Sie ihm, daß Sie aufgerufen sind, Ihr Herr Vater ist weniger wohl, werden Sie sagen! Es ist telephoniert worden, werden Sie sagen, und ich habe soeben Ihnen diese Nachricht gemeldet!
MARIE. Was wird er sagen, wenn ich plötzlich wieder abreise?
THEODOR. Was immer er sagen wird, es wird keine Wahrheit sein!
MARIE. Ich kann ihm nicht weh tun!
THEODOR leise, aber eindringlich. Aber dem Vater, ja! Er geht über die Stufen auf die Terrasse, kurz. Also demgemäß Abreise neun Uhr fünfzehn und einpacken! Er verneigt sich, geht schnell ab.
Ausgewählte Ausgaben von
Der Unbestechliche
|