Vierte Szene


[516] Jaromir kommt vorne links, wo jetzt fertig gedeckt ist und Theodor gerade das Mittelstück mit Blumen auf den Tisch stellt.

Anna hat Jaromir gesehen und wartet, sie steht an der Seite rechts.

Jaromir, ärgerlich und zerstreut, will quer durch das Zimmer gehen und bemerkt Anna nicht gleich.
[516]

ANNA. Jaromir!

JAROMIR. Ah, du!

ANNA. Du bist verstimmt über etwas?

JAROMIR. Ich komme aus dem Stall. Sie haben aus irgendeinem Grunde den kleinen Zweispänner eingespannt, in dem allerhöchstens für drei Personen Platz ist! Das bedeutet doch, da man die zwei Frauen nicht ohne jede Begleitung wegfahren lassen kann, daß ich allein mitfahren muß. Eine dumme, irritierende Sache! Es kommt einem alles zusammen!

ANNA. Was denn noch, Jaromir? Sag mirs!

JAROMIR. Mir ist ein Manuskript verlorengegangen, die erste provisorische Niederschrift von meinem neuen Roman. Verloren oder verlegt, jedenfalls ist es nicht da! Und wenn ich den Roman überhaupt noch schreiben will, so ist es mir unentbehrlich.


Setzt sich auf die Bank.


ANNA. Verloren kanns ja nicht sein. Wenn dus vor kurzem noch gehabt hast, so ist es eben verlegt! Geh morgen früh spazieren und laß mich während dieser Zeit suchen. Ich werde es finden.

JAROMIR. Hast du denn schon einen Anhaltspunkt?

ANNA. Nicht den geringsten. Aber ich weiß bestimmt, Jaromir, wenn ich etwas, was du brauchst, für dich suche, so werde ich es finden.

JAROMIR. Da brauch ich also nie mehr den heiligen Anton von Padua anzurufen, sondern dich! Um so besser! Aufstehend. Auf Wiedersehen. Ich gehe! Ich muß die Damen begleiten.

ANNA. Ich bitte dich, hab einen Moment Zeit für mich, du mußt sie dir nehmen! Ich muß dir etwas sagen!


Vor dem Tisch.


JAROMIR. Ist dir etwas? Du bist ein bisserl blaß.

ANNA. Ich habe einen sehr argen Tag durchgemacht!

JAROMIR. Ist mit der Baby was los?

ANNA. Nein, ganz anders, in mir.

JAROMIR. Du hast auch Komplikationen? Seit wann denn?

ANNA. Hör mich an, Jaromir, ich bin eine ganz mindere Person.[517] Ich bin gar nicht das, wofür du mich nimmst. Du mußt mich führen mit einer sehr strengen, festen Hand. Ich hab schon gestern abend und heute von früh an, ich hab ganz die Gewalt über mich verloren! Ich habe gegen ganz was Niedriges, ganz Unwürdiges in mir nicht mehr ankämpfen können, – ich war eifersüchtig.

JAROMIR. Auf die Melanie?

ANNA. Ja, auf die Melanie! Aber zugleich auch auf die Marie! Lach mich nur aus, auf beide!

JAROMIR mit etwas gekünstelter Heiterkeit. Aber das ist ja eine ernste Krankheit, mein Schatz!

ANNA. Ja, es war sehr ernst! Denn es hat mich so weit getrieben, daß ich mich nicht geschämt habe, etwas zu tun, was ich mich so sehr schäme, dir einzugestehen, aber es muß heraus!

JAROMIR. Ja, was denn?

ANNA. Ich habe gehorcht!

JAROMIR. Ah, ah!


Runzelt die Stirn.


ANNA. Du bist bös, – du hast recht! Straf mich! Ich habs verdient – Da Jaromir nichts sagt, fortfahrend. Heute früh warst du mit der Melanie hier im Park, und da hab ich mich in der Orangerie versteckt und habe gehorcht –

JAROMIR. Und?

ANNA. Mir war, als hätte ich dich ihr du sagen gehört. Lächelt. Aber jetzt weiß ich ja, daß ich mich geirrt habe. Und plötzlich habt ihr viel leiser zu sprechen angefangen, und da bin ich aus Stolz mit einem Ruck heraus aus dem Haus. Dann haben wir zu Mittag gegessen, und dann bin ich mit der Mama und der Melanie ausgefahren und dann war der Tee, und diese ganze Zeit über habe ich dich doch verloren gehabt.

JAROMIR. Mich verloren?

ANNA. Ja, ich bin herumgegangen und habe gehört, was die anderen reden, und habe die richtigen Antworten gegeben.[518] Aber überall zwischen mir und allen Dingen habe ich etwas gesehen, was dir ähnlich war und doch nicht du! Ich kann es nicht anders sagen: wie ein in Fetzen gerissenes unheimliches Bild von dir.


Fährt mit der Hand über ihre Augen.


JAROMIR. Aber, das ist ja ein Fiebertraum! Und man hat dir ja gar nichts angemerkt, du Kleines, du armes Kleines!

ANNA. Da hab ich einen Augenblick geglaubt, daß ich es auch ertragen könnte, wenn es sein müßte, – und auch ohne dich leben könnte! Aber dann, wie mir die Baby ihre kleinen Arme entgegengehoben hat, da ist mir eingefallen, daß du das Kind seit zwei Tagen mit keinem Blick angeschaut hast. Und da ist etwas über mich gekommen, Jaromir, etwas so Furchtbares, so, wie wenn gar nichts mehr in der Welt zu mir gehören würde, auch meine Hände nicht, meine Füße nicht, auch mein Gesicht nicht!

JAROMIR zieht sie an sich. Aber wie hast du dir denn diese Geschichte so zu Herzen nehmen können?

ANNA entzieht sich ihm sanft. – und da hab ich gewußt, wenn ich jetzt nicht gleich zu unserem Herrgott beten kann, daß er dich mir wiedergibt, so bin ich verloren!

JAROMIR. Aber ich gehöre doch zu dir und du gehörst zu mir! Vor sich. O nie, nie wieder!

ANNA. Aber richtig beten hab ich auch nicht mehr können, nur das denken und mich so zu ihm hinfallen lassen –

JAROMIR wie oben. Da, zu mir, wo du hingehörst!

ANNA. – und er hat mich erhört! In der Sekunde, und hat dich mir wiedergegeben!

JAROMIR. Wie denn, du Engel?

ANNA. Ich habe gespürt, er schickt dich von irgendwoher ganz zu mir zurück, unverlierbar –

JAROMIR. Und nie wieder kann uns etwas auseinanderreißen!

ANNA hat sich sanft aus Jaromirs Arm gelöst, sie spricht jetzt in leichtem fröhlichem Ton weiter. Und dann hab ichs klopfen gehört, und auf einmal ist die Melanie dagestanden und dann ist auch die Marie gekommen, auch, mir adieu zu sagen, und beide waren so lieb![519]

JAROMIR. Du bist lieb! Du bist mein einziges, süßes Liebstes auf der Welt!

ANNA wie oben. Die Marie ist ein besonderes Wesen, so ein Herz, und die Melanie ist so was Loyales, Aufrichtiges, Gescheites, Hübsches!

JAROMIR. Du bist das alles, du, nur du!

ANNA. Und da hab ich alles verstehen können!

JAROMIR. Was denn?

ANNA. Alles, alles auf einmal! Das weiß ich doch, daß diese beiden Frauen sehr an dir hängen und daß man darüber geredet hat, und eben wegen der Leute hast du wollen, daß sie beide einmal hier bei uns gewesen sind – – nur aus Güte und Zartgefühl für sie beide!

JAROMIR. Das kann ich doch gar nicht alles anhören!


Küßt sie heftig.


ANNA. Damit sie fühlen, daß, wenn du sie schon nicht hast wählen können, du sie doch sehr hochstellst und immer stellen wirst. Und ich, ob ich sie nun viel oder wenig sehen werde, ich bin ihnen jetzt schon so anhänglich – – ich hab doch gespürt, wie sie beide sind.

JAROMIR. Ich hab gespürt, was du bist! In dieser Stunde so wie nie.

ANNA zwischen Lachen und Weinen. Nicht, ich bitt dich, nicht!

JAROMIR. Und hörst du, ich will nicht, daß du das Manuskript suchst. Küßt sie. Und wenn ich es finde, so wird es verbrannt, ich brauche es nicht. Ich will es nicht. Nie wieder, das ist alles nur eine eitle, unwahre Grimasse! Ein abscheuliches Überbleibsel aus meiner zu langen Junggesellenzeit! Das brauch ich nicht. Küßt sie. Das will ich nicht haben. Dich will ich haben, dich!

ANNA zwischen Lachen und Weinen entzieht sich ihm. Sag kein Wort mehr! Kein Wort! Sonst muß ich sofort heulen wie ein Hofhund beim Aveläuten –

THEODOR ist wieder auf der Terrasse erschienen. Herr Baron, die Damen sind in Abreise begriffen –

JAROMIR überhört die Meldung. Ich muß dir so viel sagen! Heute noch, heute, sag doch wann?[520]

ANNA. Laß mich, es ist zuviel!


Theodor steht in der Mitte.

Anna, sehr erregt, und dem Weinen nahe, weicht Jaromir aus bis an die äußerste vordere Ecke. Sie läuft rechts hinaus.


THEODOR nähert sich Jaromir. Dürfte ich jetzt etwas melden?

JAROMIR. Was denn?

THEODOR sich umwendend, ob niemand horche. Ich hab mir erlaubt, unvorgreiflich eine provisorische Anordnung zu treffen.

JAROMIR. Was denn, das geht doch alles die Mama an.

THEODOR. Nein, das geht Herrn Baron persönlich an! Ich habe in Erwägung gezogen, daß Herr Baron nicht gerne haben, wenn Gesellschaft aus drei Personen besteht, besonders wenn Damen sind, wo man doch gewöhnt ist, mit jeder einzelnen sich zu unterhalten.


Tritt näher.


JAROMIR. Was wollen Sie denn, wovon reden Sie denn?

THEODOR. Demgemäß habe ich nachgedacht, wie peinliche Situation bei so einem Abschied sich in manierlicher Weise vermeiden ließe, und hab für alle Fälle im Stall befohlen, die Mascotte zu satteln. Es ist schöner Mondschein, Euer Gnaden können zeitweise Trab reiten neben dem Wagen, zeitweise wieder Galopp und Schritt quer über Wiesen, so ist man in Gesellschaft und ist doch für sich allein –

JAROMIR. Das ist ja eine wunderbare Idee! Franz! Sie sind ein außerordentlich gescheiter Mensch! Ich danke Ihnen sehr, Franz! Da brauche ich mich nun nicht umzuziehen. Ich sehe, daß Sie mir Ihre alte Anhänglichkeit bewahrt haben –


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 2–5: Dramen, Band 4, Frankfurt a.M. 1979, S. 516-521.
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