Erlebnis

[4] Mit silbergrauem Dufte war das Tal

Der Dämmerung erfüllt, wie wenn der Mond

Durch Wolken sickert. Doch es war nicht Nacht.

Mit silbergrauem Duft des dunklen Tales

Verschwammen meine dämmernden Gedanken,

Und still versank ich in dem webenden,

Durchsichtgen Meere und verließ das Leben.

Wie wunderbare Blumen waren da

Mit Kelchen dunkelglühend! Pflanzendickicht,

Durch das ein gelbrot Licht wie von Topasen

In warmen Strömen drang und glomm. Das Ganze

War angefüllt mit einem tiefen Schwellen

Schwermütiger Musik. Und dieses wußt ich,

Obgleich ich's nicht begreife, doch ich wußt es:

Das ist der Tod. Der ist Musik geworden,

Gewaltig sehnend, süß und dunkelglühend,

Verwandt der tiefsten Schwermut.

Aber seltsam!

Ein namenloses Heimweh weinte lautlos

In meiner Seele nach dem Leben, weinte,

Wie einer weint, wenn er auf großem Seeschiff[4]

Mit gelben Riesensegeln gegen Abend

Auf dunkelblauem Wasser an der Stadt,

Der Vaterstadt, vorüberfährt. Da sieht er

Die Gassen, hört die Brunnen rauschen, riecht

Den Duft der Fliederbüsche, sieht sich selber,

Ein Kind, am Ufer stehn, mit Kindesaugen,

Die ängstlich sind und weinen wollen, sieht

Durchs offne Fenster Licht in seinem Zimmer –

Das große Seeschiff aber trägt ihn weiter

Auf dunkelblauem Wasser lautlos gleitend

Mit gelben fremdgeformten Riesensegeln.


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Erste Reihe in drei Bänden, Band 1, Berlin 1924, S. 4-5.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Gedichte: Ausgabe 1924
Der Brief des Lord Chandos: Schriften zur Literatur, Kunst und Geschichte
Erzählungen
Jedermann: Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes
Der Schwierige: Lustspiel in drei Akten
Der Rosenkavalier: Komödie für Musik in drei Aufzügen von Hugo von Hofmannsthal. Textausgabe