[96] »Könnten wir die Historie loswerden«
Friedrich Nietzsche
Vernichtunglodernd,
Tödlich leuchtend,
Lebenversengend
Glüht uns im Innern
Flammender Genius.
Aber es schützt uns
Vor dem Verglimmen
Kühlenden Unkrauts dichte Decke,
Die unser Herz feucht wuchernd umspinnt:
Gewohnheit und gedankenlose
Lust am Leben,
Und tröstende Lüge,
Und süßer Selbstbetrug,
Und trauliches Dämmern
Von heut auf morgen ...
Wir tragen im Innern
Leuchtend die Charis,
Die strahlende Ahnung der Kunst.
Aber die Götter haben sie tückisch
Mit dem Hephästos vermählt:
Dem schmierigen Handwerk,
Der hinkenden Plage,
Der humpelnden, keuchenden Unzulänglichkeit.
Wir tragen im Innern
Den Träumer Hamlet, den Dänenprinzen,
Den schaurig klugen,
Den Künstler der Lebensverneinung,
Der den Schrei der Verzweiflung noch geistreich umrankt mit funkelndem Witz.
Aber bei ihm sitzt
In unserer Seele enger Zelle
Mit blödem Mönchsfleiß,
Und emsig das Leben bejahend,
Gräber schaufelnd der schmerzenden Wahrheit,[97]
Gräber von Büchern, Worten, Staub,
Der eignen Beschränktheit in Ehren froh,
Ein lallender Kobold: der deutsche Professor ...
Wir tragen im Innern den Faust, den Titanen,
Und Sganarelle, die Bedientenseele,
Den weinenden Werther – und Voltaire, den Zweifler,
Und des Propheten gellenden Wehruf
Und das Jauchzen schönheittrunkner Griechen:
Die Toten dreier Jahrtausende,
Ein Bacchanal von Gespenstern.
Von andern ersonnen, von andern gezeugt,
Fremde Parasiten,
Anempfunden,
Krank, vergiftet. –
Sie wimmern, sie fluchen, sie jauchzen, sie streiten:
Was wir reden, ist heisrer Widerhall
Ihres gellenden Chors.
Sie zanken wie taumelnde Zecher
Uns zur Qual!
Aber es eint sie die Orgie
Uns zur Qual!
Sie trinken aus unsrem Schädel
Jauchzend den Saft unsres Lebens –
Sie ranken sich erstickend,
Zischende Schlangen,
Um unser Bewußtsein –
Sie rütteln am ächzenden Baum unsres Glücks
Im Fiebersturm –
Sie schlagen mit knochigen Händen
An unsrer Seele bebende Saiten –
Sie tanzen uns zu Tode!
Ihr wirbelnder Reigen wühlt die Welle auf.
Die Lebenswelle, die Todeswelle,
Bis sie die Dämme brandend zersprenget
Und die Gespenster verschlinget
Und uns mit ihnen ...
Und sich über unsre Qualen breitet
Ein schweigender, kühlender Mantel:
Nacht ... – – –!
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Die Gedichte 1891-1898
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