Achtes Kapitel

[191] Im Spätsommer und Herbst 1835 war ich fast immer von Düsseldorf abwesend. Überdies nahmen die »Epigonen«, die nach zwölfjähriger Arbeit endlich fertig werden sollten und mußten, meinen Sinn so ganz gefangen, daß ich jede Berührung mit Personen und Dingen, außer den durch das Geschäft nur gebotenen, in jenen Monaten mied. Ich sah Grabbe nur flüchtig, auf Augenblicke.

Als ich Ende November nach Düsseldorf zurückkehrte, und mit ihm wieder anzuknüpfen versuchte, fand ich ihn sehr verändert. Schon vorher waren mir Gerüchte zugekommen, daß er sich inzwischen ein Wirtshausleben, wie es am Rheine leicht bereitet ist, und den mit einem solchen zusammenhangenden Kreis erwählt habe, in dessen Bewunderung er sich genüge.

Er war körperlich noch mehr verfallen, als früher, und die Farbe seines Gesichts ging beinahe in das Erdfahle. Auch geistig schien er abgeschwächt zu sein. Seine Gedanken bewegten sich nur noch um einen kleinen Raum. Am liebsten sprach er von der »Hermannsschlacht«; ja, er wurde verdrießlich, wenn man das Gespräch diesem Thema entziehen wollte. Seines Todes gedachte er, wie einer abgemachten, nahe bevorstehenden[191] Sache; keine Furcht vor dem letzten Augenblicke ließ sich wahrnehmen; darin war ihm die alte Stärke verblieben. Er wünschte, zu sterben, wenn er Arnim zum Siege geführt haben würde.

Ein Zettel aus jener Zeit spricht dieses Gefühl folgendergestalt aus:


»Die ›Hermannsschlacht‹, welche Sie erwähnen, ist gegen ›Hannibal‹ ein Koloß. Sie ist fertig. Ich feile nur noch, sinke auch wohl an ihr nieder, wenn sie vollendet ist – auf ewig.«


Ich traf mit ihm nur noch äußerst selten zusammen. Sehr bald mußte ich mich überzeugen, daß er meinem Einflusse und den Darbietungen, die ich ihm zu gewähren vermochte, entzogen sei; in die Wege aber, die er nun zu gehen liebte, konnte ich ihm nicht folgen. Er versaß einen Teil seiner Tage in einem Weinhause, wo sich dann allerhand Leute zu ihm fanden, die er durch sein sonderbares Wesen und durch Bonmots hinzureißen und zu begeistern wußte. – Das Gefühl der zunehmenden Schwäche erklärt alles und entschuldigt ihn durchaus. Er mochte sich keinen Zwang mehr antun, und das Bequemste mußte ihm das Liebste sein. Verhielt er sich zu Hause, so arbeitete er unablässig an seinem letzten Werke; er soll die »Hermannsschlacht« im einzelnen, wie im ganzen, mehrere Male völlig umgeschrieben haben. Während des Winters 1835–1836 lieferte er wieder Theaterkritiken in ein Tageblatt, die zum Teil von einer engen Verdrießlichkeit zeugen, wie sie sein abgeschiedenes Leben zu entwickeln wohl geeignet war.

Einen Sonnenblick in diese Finsternis warf der Umgang mit Norbert Burgmüller, welcher den letzten Monaten seines Verweilens angehört. Norbert Burgmüller, ein junger Tonkünstler, hilft auch den Beweis führen, wie überreich Deutschland an Talenten ist, und wie es daher Entschuldigung verdient, wenn es so manche Kraft unbemerkt verderben läßt, welche in andern Ländern vielleicht von den Schwingen der öffentlichen Meinung hoch emporgetragen sein würde. Ich glaube,[192] daß der Jüngling, von dem ich rede, in England oder Frankreich das glänzendste Los aus der Urne gezogen hätte; bei uns ging er, nur den Nächsten bekannt, umher, starb, ohne daß man außer dem Weichbilde von Düsseldorf von dem Verluste, den die Kunst durch seinen Heimgang erlitt, hörte.

Er war der Sohn des alten wunderlichen Kauzes, dessen Zelter im dritten Teile seines Briefwechsels mit Goethe gedenkt. Von diesem Schlemmer kann man kaum reden, ohne daß die Schilderung in das Komische verfällt. Ein Musikant, klug, toll, lustig, aus der früheren debauchierenden Schule. Fünfhundert Stück Austern war er zu bezwingen imstande, und wenn in ihm der Gedanke an einen gebratenen Kapaun erregt wurde, so schnalzten die Lippen, und er weinte Tränen der Rührung über die Gnade Gottes, welche der Erde solche Gaben gönnte. Ich habe sein Bild, in Kupfer gestochen, gesehen. Die Backen gleichen zwei Pfannenkuchen, an denen die Butter nicht gespart ist, frisch aus dem Tiegel, die Augen sind ihm vor Fett, bis auf eine schmale Spalte, zugewachsen. Außerdem hat er Waden besessen, über das Maß der Sterblichkeit hinaus. Die ganze Familie aß aus dem Topfe, worin die Speise bereitet war; Teller wurden für Überfluß gehalten.

In dieser Wirtschaft wuchs Norbert auf, und da mag er die Anlage zum genialen Umherschlendern, welches ihm eigen war und seinem Glücke schädlich ward, empfangen haben. Sein Talent zeigte sich sehr früh, mußte sich aber vorzeitig – er war kaum vierzehn Jahre alt – in Lektionen abquälen. Nach dem Tode des Vaters studierte er in Kassel unter dem vortrefflichen tiefgelehrten Harmonisten Hauptmann und kam zu Spohr in die vertrautesten Beziehungen. Spohr liebte ihn sehr und hegte von seinen Fähigkeiten die größten Erwartungen.

Dort bildete er sich zum gründlichsten Musiker aus. Nach Düsseldorf zurückgekehrt, lebte er von Unterstützungen des Grafen Nesselrode und vom Stundengeben. Daneben schrieb er an seinen Werken. Die Natur hatte ihm eine Fülle wahrer Melodien zugeteilt, die durch den Unterricht bei Hauptmann Konsistenz gewannen. In Kassel schrieb er sein erstes Konzert, ein Werk von großer Schwierigkeit und suchendem, etwas[193] düsterm Sinn. In Düsseldorf folgte die erste Symphonie, worin sich die reiche Harmonie zu klarer Darlegung oft ganz neuer Gedanken ausgearbeitet hatte; dann setzte er mehrere Nummern zu einer Oper, die er des Textes wegen späterhin aufgab. Hier war er faßlich für jeden, doch hatte er dafür auch einiges gewöhnlicher genommen, als in der Symphonie. Nachmals hat er noch sehr tief und richtig empfundene Lieder, ein vortreffliches Quartett und drei Nummern zu einer zweiten Symphonie geschrieben, in welchen Arbeiten aber ein bedeutender Fortschritt zur Klarheit sichtbar war und alles aus innerer Fülle strömte. Seine Werke tragen ganz das Gepräge seines Wesens. Fein und sentimental im besten Sinne, dennoch tief und oft humoristisch war er und das, was er schrieb. Er setzte nie eine Note hin, um sie nur dastehen zu haben; eine lebendige Notwendigkeit erzeugte jeden Ton. Lieber ließ er etwas unvollendet, als daß er sich in nicht empfundenen herkömmlichen Weisen beschwichtigt hätte. Den vierten Satz zu seiner zweiten Symphonie konnte er nicht finden, und es war halb komisch, halb rührend, wenn man ihn auf Befragen antworten hörte: »Er ist immer noch nicht da!«

Mit diesem ausgestatteten Menschen kam Grabbe hinter der Flasche fleißig zusammen, und es entspann sich zwischen beiden ein fröhliches Verhältnis, dem auch die Innigkeit nicht gemangelt zu haben scheint. Vielleicht wäre dem einen wie dem andern ein Freund von gesetzterem Charakter dienlicher gewesen; schlägt man aber den Genuß, den die Verbindungen unter den Menschen gewähren sollen, auch für etwas an, so kann man nur sagen, daß die beiden phantasievollen Naturen einander zum Glück gefunden hatten. Grabbe schrieb für seinen Freund einen tollkomischen Operntext, in Verspottung der Bücher dieser Art, worin einem Schafe eine bedeutende Partie zugefallen war. Es ließ sich über diesen Unsinn, der nichts anderes sein wollte, als Unsinn, besser lachen, als über »Aschenbrödel« und das Lustspiel.

Im Mai 1836 reiste Norbert nach Aachen, um sich von alteingewurzelten Übeln zu heilen. Seit seiner Kindheit[194] schwächlich, war er späterhin epileptischen Zufällen unterworfen gewesen. Plötzlich wurden wir durch die Nachricht erschreckt, daß er tot in der Badewanne gefunden worden sei.

Grabbe widmete ihm einige Zeilen der Erinnerung in einem öffentlichen Blatte. Folgende Worte kamen darin vor: »Noch sind es kaum acht Tage, wo er mich Podagristen gutmütig abends aus dem Theater nach Haus führte, und sagte, er reise morgen zu einem Musikfeste oder Konzerte nach Aachen, und werde in vierzehn Tagen zurückkommen. – Norbert, du hast dein Wort schlecht gehalten, bist weiter gereist und kommst nicht wieder, starbst am siebenten Mai, welcher diesmal für jeden, der dich kannte, kein Wonnemond ist! –

... Es vergeht, es stirbt so mancher Treffliche – man könnte bisweilen wünschen, auch in der Gesellschaft zu sein, auch deshalb, weil die Toten stumm sind, und nicht klatschen und verleumden.« –


Er ist darauf kaum noch vierzehn Tage in Düsseldorf verblieben, dann hat er sich still, ohne Abschied zu nehmen, fortbegeben und nach Detmold in seine Häuslichkeit zurückgewandt. Im Herbst des Jahres 1836 erzählten die Zeitungen, daß er am zwölften September nach langem Kränkeln, in einem Alter von beinahe fünfunddreißig Jahren verschieden sei.

Insofern man von Dingen, die über Glück und Unglück hinausragen, doch diese Bezeichnungen brauchen darf, kann man behaupten: sein Tod war ein Glück für ihn. Er löste ihn von bittern Qualen. Auch glaube ich, daß er gegeben hatte, was er geben konnte; sein Talent war keiner eigentlichen Steigerung mehr fähig. Er würde bei fernerer Lebensdauer sich selbst nachgeahmt haben – das Schlimmste, was einen produktiven Genius betreffen kann. Das Gemeine war allerdings imstande, Grabben zu überwuchern, aber er erhielt sich auch unter solchem Schlinggeflechte in seinem Innern eine Stelle, wohin das Gemeine nicht drang. Den Beweis hiervon gab noch in seiner letzten wüsten Zeit die Liebe zu[195] Burgmüller. Übrigens muß dem alles vergeben sein, der, wie er, neun Monate lang, sein Sterbebett im Auge zu halten hat.

Wir sind nie eigentlich Freunde gewesen. Unser Wesen war zu verschieden. Aber über die Kluft, die uns trennte, reichte bei mir das Gefühl hinaus, welches uns bei dem Anblicke einer gewaltigen Menschennatur erschüttert, die laokoontisch mit ihren Schmerzen ringt. – Es ist das Gefühl, welches mich auch trieb, ihm über seinem Grabe dieses Charakterbild aufzurichten – kein in das Allgemeine verschönertes – denn damit wäre ihm wenig gedient, sondern ein ikonisches, wie die Griechen es den Kämpfern setzten, die sie besonders ehren wollten.[196]

Quelle:
Immermann, Karl: Memorabilien. München 1966, S. 191-197.
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