Fünftes Kapitel

[178] Die Phantasie macht den Dichter. Ihre individuelle Beschaffenheit, ihre besondere Färbung ist es daher, was zunächst der poetischen Physiognomie Schattierung und Betonung gibt.

Wo die Phantasie in hervorstehender Stärke vorhanden ist, da offenbart sich dieselbe durch liebevolle Energie und unendliche Expansionsfähigkeit. Glücklich, wo beides sich vereinigt zeigt. Goethe und Shakespeare sind Beispiele eines so begünstigten Bundes. In der Regel aber hat eine der beiden Potenzen das Übergewicht. In Novalis zeigt sich die erste, in Ariost die zweite vorherrschend wirksam.

Dieser zweiten Reihe poetischer Naturen gehörte auch Grabbe entschieden an. Er hatte auf dem Felde, welches seinem Geiste vorzugsweise angewiesen worden war, auf dem Felde der geschichtlichen Betrachtung, einen großen und weiten Gesichtskreis. Innerhalb desselben fuhr nun seine Phantasie unermüdlich hin und her, schaute, verknüpfte, erriet mit seltener Sagazität, aber wenn es an das energische Bilden gehen sollte, so fehlte ihr der Atem. Aus diesem Mangel, nicht aus einer Überfülle, ist die Ungeheuerlichkeit seiner Figuren zu erklären. Ich will damit nicht behaupten, daß ihm das plastische Vermögen ganz gebrochen habe. Ohne dieses ist ja kein Dichter gedenkbar. Aber es war nicht in voller Stärke vorhanden, es war nicht so mächtig, um runde, naive, sich selbst aussprechende Menschen zu schaffen, immer mußte, wenn die Charakteristik zum Schluß kommen sollte, eine[178] Phrase, eine Reflexion als Surrogat aushelfen. Daher konnte er auch nie eine Handlung abgrenzen, daher das Genre- und Tableauartige seiner Arbeiten und innerhalb dieser charakteristischen Sphäre wieder die lakonisch-aphoristische Behandlungsweise, welche immer mehr bei ihm zunahm. Er fühlte wohl, daß längeres Verweilen bei einer Anschauung ihm nur zum Nachteil gereiche. Daher endlich seine Vorliebe für große, weitläufige Vorgänge der Menschenwelt, in denen der einzelne in den Massen auslöscht, namentlich für Schlachten, die fast in jedem seiner Werke vorkommen. Es war ihm unmöglich, und es wäre ihm vermutlich auch bei längerem Leben unmöglich geblieben, zu motivieren, einen Charakter nach und nach aus seinen verborgenen Tiefen hervorzuspinnen, Tat und Geschick naturgemäß anschwellen und reifen zu lassen. Wie er im Leben alles auf die Spitze stellen mochte, so tat er es auch in der Poesie. Werden und Wachsen konnte er nicht zeichnen; das Fertige und Gewordene war seine Domäne. Auf dieser hat er die Literatur mit neuen Anpflanzungen bereichert und ist nicht selten mit wahrem Kunstgefühl verfahren, so daß sich vieles von ihm lernen läßt, wie roh seine Sachen an der Oberfläche auch aussehen mögen.

Mit mancher untragbaren Bürde war diese Phantasie belastet, gegen harte Schranken hatte sie anzurennen. Das ist nun sein Geschick, der zweite Faktor in dem Lebensexempel eines Dichters. Unerträgliche und widrige Erinnerungen waren die ersten seiner Kindheit gewesen; die frühesten Blicke hatten den Abschaum der menschlichen Gesellschaft gesehen. Aus diesem Schmutze mußte sich die jugendliche Psyche erst losringen; es konnte nicht fehlen, daß die Richtung der Vorstellungen gegen das Gemeine und Abscheuliche, welche seine ersten Versuche entstellt, eine Zeitlang als krankhafte Nachwirkung blieb. Mit richtigem Instinkte wählte seine Natur das einzige Heilungsmittel, welches sich hier darbot: die Geschichte. Der Ekel, den der Anblick der Elenden macht, der Schwindel, mit dem das Wühlen bestialischer Kräfte im Pfuhle der Sozietät das Haupt befängt, kann nur von dem Bilde der Helden und großen Männer, von der Betrachtung der harmonischen Schwingungen, in denen das Menschengeschlecht[179] sein Los erfüllt, verdrängt werden. – Redlich hat Grabbe in dieser Beziehung seiner Herstellung obgelegen, das Zeugnis läßt sich ihm nicht versagen. Immer fester wandte er sein Auge, wenigstens das poetische, dem Positiven, Ewigbestehenden zu, und hielt dieses gerade in der letzten Periode seines Lebens für das allein der Beobachtung Würdige.

Aber einen zweiten Einfluß seiner Weltstellung konnte er nicht so aus eignem Mute abschütteln; das Glück hätte ihm helfen müssen. Sohn eines Zuchthausverwalters in Detmold, hatte er sein Leben hindurch die Armut und die Einsamkeit zu treuen Gefährtinnen. Ein würdiger Stolz, ein begründetes Selbstbewußtsein war ihm eingeboren, was aber unter so ungünstigen Sternen, so wenig von den allgemeingültigen Empfehlungen des Standes, der Geburt, des Vermögens unterstützt, ihn nur um so abstoßender erscheinen ließ, und eine Mauer mehr zwischen ihm und den ergiebigen Verhältnissen des Lebens aufrichtete. Gerade ihm hätte die Wirklichkeit durch Reisen, bedeutende Bekanntschaften und Verbindungen die reichsten und erfrischendsten Quellen öffnen müssen, um den von mir angedeuteten Mangel an eigentlich schöpferisch-bildender Kraft durch sittliche und sinnliche Erfahrung zu ersetzen, und gerade ihm blieben diese Hilfen streng versagt. Er war zwar nacheinander in Leipzig, Berlin, Braunschweig, Dresden; jedoch an jedem dieser Orte nur auf kurze Zeit, und ohne daß er irgendwo den Boden gefunden, in dem er hätte wurzeln können.

Nachmals erhielt er den Posten in seiner Vaterstadt. Nun war er auf sich, die Akten und seine Bücher zurückgewiesen. In so kümmerlicher, dürrer Lage, wo ihm keine Persönlichkeit imponieren, ihn zur Besinnung, zu einer wohltätigen Erschütterung seines Wesens nötigen konnte, mochte er sich zwar noch sprung- und punktweise mit dem Kerne der Welt in Sympathie erhalten, die Besitznahme aus dem ganzen und vollen, wie sie seinen nun begonnenen männlichen Jahren eignete und gebührte, wurde aber unmöglich.

Endlich verheiratete er sich auch noch. Vielleicht der größte Mißgriff, den er je begangen hat! Wie hätte er, der sich selbst nicht vorzustehen vermochte, einer Familie vorstehen können?[180] – Seine Tage wurden immer betrübter und für andere betrübender. Die Dinge, anstatt ihm näher zu treten, zogen sich vor seiner leidenschaftlichen Hast scheu in die Ferne zurück; dort schwebten sie der geängstigten Seele als kalter, blasser Traum vor, aus dessen beklemmenden Schrecken zu erwachen, vielleicht schon die Kraft verlorengegangen war.

Quelle:
Immermann, Karl: Memorabilien. München 1966, S. 178-181.
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