|
[138] Niels Lyhne eilte in die Heimat zurück, er konnte die Einsamkeit zwischen all den fremden Menschen nicht ertragen; je mehr er sich aber Kopenhagen näherte, desto häufiger fragte er sich selber, was er dort eigentlich sollte, desto mehr bereute er, nicht draußen geblieben zu sein. Denn wen hatte er in Kopenhagen? Frithjof nicht, Erik befand sich auf einer Studienreise in Italien, und Frau Boye? Ja, sein Verhältnis zu Frau Boye war recht eigentümlich. Jetzt, wo er eben vom Grabe seiner Mutter kam, konnte er dies Verhältnis, wenn es ihm auch nicht gerade unheilig erschien, doch nicht recht mit dem Ton, in welchem seine Stimmung jetzt zitterte, in Einklang bringen. Es war ein Mißklang da. Wäre es seine verlobte Braut gewesen, ein junges, errötendes Mädchen, dem er entgegenzog, nachdem seine Seele so lange der Erfüllung seiner Kindespflicht obgelegen, so würde das mit seinen Gefühlen nicht im Widerspruch gestanden haben. Es half nichts, daß er versuchte, überlegen zu sein über sich selbst, indem er seine Auffassung des Verhältnisses zu Frau Boye spießbürgerlich, beschränkt nannte, das Wort zigeunerhaft kam ihm doch, fast unbewußt, auf die Lippen, als Ausdruck für das Mißbehagen, von dem er sich nicht freimachen konnte, und es war auch gleichsam eine Art Fortsetzung in derselben Richtung, daß der erste Besuch, den er machte, sobald[139] er sich seine alten Zimmer am Walle gesichert hatte, nicht Frau Boye galt, sondern dem Etatsrate.
Als er sie am nächsten Tage aufsuchen wollte, traf er sie nicht. Der Portier sagte, sie habe in der Nähe der Emilienquelle eine Villa gemietet, was Niels sehr wunderte, da er wußte, daß das Landhaus ihres Vaters nicht weit davon entfernt lag. An einem der nächsten Tage wollte er einmal da hinaus.
Aber schon am folgenden Morgen erhielt er ein Billett von Frau Boye, worin sie ihn zu einer Zusammenkunft in ihrer Stadtwohnung bestellte. Um dreiviertel auf eins solle er kommen, müsse er kommen. Sie wolle ihm sagen, weshalb, falls er es nicht schon wisse. Wußte er es bereits? Er dürfe sie nicht falsch beurteilen, er kenne sie ja. Warum sollte er auch die Sache so auffassen, wie es plebejische Naturen tun würden? Das würde er doch nicht? Sie seien ja nicht so wie andere Leute. Wenn er sie nur verstehen wollte! Niels, Niels!
Dieser Brief versetzte ihn in eine ungeheure Spannung, und er erinnerte sich plötzlich voller Unruhe, daß die Etatsrätin ihn neulich so spöttisch, so mitleidig angesehen und dann gelächelt hatte und geschwiegen, ja sie hatte ganz eigentümlich geschwiegen. Was konnte es nur sein? Ja, was in aller Welt konnte es nur sein?
Die Stimmung, die ihn von Frau Boye ferngehalten hatte, war verschwunden. Er verstand sie nicht einmal mehr, er fürchtete sich. Hätten sie sich doch nur wie andere vernünftige Menschen geschrieben! Warum hatten[140] sie es denn eigentlich nicht getan? Seine Zeit war doch wirklich nicht zu sehr in Anspruch genommen gewesen. Es war auch zu wunderbar, daß er sich stets von dem Orte beeinflussen ließ, an dem er sich gerade befand, und daß er alles vergaß, was ihm fern lag. Er vergaß es nicht gerade, aber er wies es weit von sich, ließ es von dem Zunächstliegenden begraben, wie unter Bergeslasten. Man hätte kaum geglaubt, daß er Phantasie besäße!
Endlich! Frau Boye schloß ihm die Eingangstür auf, bevor er noch geschellt hatte. Sie sagte nichts, reichte ihm nur die Hand zu einem langen Händedruck des Beileides; die Zeitungen hatten ja seinen Verlust gemeldet. Auch Niels sagte nichts, und so gingen sie schweigend durch das erste Zimmer, zwischen zwei Reihen von Stühlen mit rotgestreiften Bezügen hindurch. Die Kronleuchter waren verhängt und die Fenster mit Kreide geweißt. Im Wohnzimmer war alles wie gewöhnlich, nur waren die Sommerläden vor den geöffneten Fenstern herabgelassen und bewegten sich in dem leisen Luftzuge klappernd, mit kleinen einförmigen Schlägen, gegen die Fensterkreuze. Die Reflexlichter des sonnenbeschienenen Kanals sickerten gedämpft durch die gelben Holzstäbe und bildeten oben an der Decke eine unruhige, wirre Zeichnung von Wellenlinien, zitternd wie die zitternden Wogen da draußen; sonst war alles so weich und still, so erwartungsvoll mit angehaltenem Atem.
Frau Boye konnte nicht recht mit sich einig werden,[141] wo sie sitzen wollte, endlich entschloß sie sich für den Schaukelstuhl; sie wischte eifrig den Staub mit dem Taschentuche davon ab, stellte sich dann aber hinter dem Stuhle auf, die Hände auf die Lehne gestützt. Sie hatte ihre Handschuhe noch anbehalten und nur den einen Ärmel ihrer schwarzen Mantille abgezogen, die sie über ihrem buntkarrierten, seidenen Kleide trug; es waren ganz kleine Karrees, ebenso wie die, welche sich auf dem breiten Bande ihres großen, runden Pamelahutes befanden, dessen breiter, heller Rand ihr Gesicht jetzt, wo sie dastand und herabblickte, halb verbarg, während sie den Stuhl ungestüm hin und her schaukelte.
Niels saß auf dem Sessel am Pianino, in ziemlicher Entfernung von ihr, als erwarte er, etwas Unangenehmes zu hören.
»Weißt du es, Niels?«
»Nein; was ist es denn, was ich nicht weiß?«
Der Stuhl stand still. »Ich habe mich verlobt.«
»Sie haben sich verlobt, aber weshalb – wie?«
»Ach, sag' doch nicht Sie zu mir, sei nicht so unklug!« Sie lehnte sich ein wenig trotzig gegen den Schaukelstuhl. »Du kannst dir doch denken, daß es nicht gerade allzu angenehm für mich ist, hier zu stehen und dir alles erklären zu müssen! Ich will es ja tun, aber du solltest mir ein wenig behilflich sein!«
»Unsinn! Bist du verlobt, oder bist du es nicht?«
»Ich sagte es dir ja schon«, erwiderte sie mit leiser Ungeduld und blickte auf.[142]
»Ja, dann gestatten Sie mir, Ihnen meine aufrichtigen Glückwünsche darzubringen, gnädige Frau, und haben Sie vielen Dank für die Zeit, die wir miteinander verlebt haben!« Er war aufgestanden und verneigte sich mehrmals spöttisch.
»Und so kannst du von mir gehen, so ruhig? Ich bin verlobt, und so sind wir beide fertig miteinander, und alles das, was zwischen uns gewesen ist, war nur eine alte dumme Geschichte, an die man nicht mehr denken muß? Was geschehen ist, das ist geschehen. Daran läßt sich nun einmal nichts ändern. Aber Niels, soll denn die Erinnerung an all die schönen Tage von nun an stumm sein, willst du nie, nie mehr an mich denken, dich niemals nach mir sehnen? Willst du nicht zuweilen an einem stillen Abende den Traum noch einmal träumen, ihm die Farben geben, in denen er hätte strahlen können? Kannst du wirklich darauf verzichten, dies alles in Gedanken wieder ins Leben zu rufen und es zu der Fülle reifen zu lassen, die es hätte erreichen können? Kannst du das? Kannst du deinen Fuß darauf setzen und es niedertreten, ihm völlig den Garaus machen? Niels!«
»Ich hoffe, daß ich es kann; Sie haben mir ja gezeigt, daß es möglich ist. Aber es ist ja Unsinn, alles miteinander, grenzenloser Unsinn von Anfang bis zu Ende; weswegen haben Sie eigentlich diese Komödie veranstaltet? Ich habe ja auch nicht einen Schatten von Recht, Ihnen Vorwürfe zu machen. Sie haben mich ja niemals[143] geliebt, mir nie gesagt, daß Sie es täten; Sie haben mir erlaubt, Sie zu lieben, ja, das haben Sie, und jetzt nehmen Sie Ihre Erlaubnis wieder zurück; oder darf ich Sie vielleicht auch künftig noch lieben, jetzt, wo Sie einem anderen gehören? Ich verstehe Sie nicht. Haben Sie das vielleicht für möglich gehalten? Wir sind doch keine Kinder mehr! Oder fürchten Sie, daß ich Sie zu schnell vergäße? Seien Sie ruhig, Sie löscht man nicht aus aus dem Leben! Aber nehmen Sie sich in acht! Einer Liebe wie der meinen begegnet eine Frau nicht zweimal in ihrem Leben; nehmen Sie sich in acht, damit es Ihnen nicht Unglück bringt, daß Sie mich von sich gewiesen. Ich wünsche Ihnen nichts Böses, nein, nein, möge Ihnen alle Not und aller Kummer fern bleiben, möge all das Glück, das Reichtum, Bewunderung und gesellige Erfolge zu bieten vermögen, Ihnen im vollsten Maße zu teil werden, im allervollsten, das wünsche ich Ihnen; möge die ganze Welt Ihnen offen stehen, ausgenommen eine einzige kleine Tür, wieviel Sie auch klopfen, wie oft Sie sich auch bemühen mögen, sonst alles, alles so voll und so weit, wie Sie es nur wünschen können!«
Er sagte das langsam, fast traurig, nicht im geringsten bitter, aber mit einem eigenartig zitternden Klang in der Stimme, mit einem Klang, den sie nicht kannte, und der Eindruck auf sie machte. Sie war ein wenig bleich geworden und stand steif auf den Stuhl gestützt da.
»Niels,« sagte sie, »Niels, prophezeie mir nichts Böses, bedenke, daß du nicht hier warst, Niels, und meine Liebe[144] – ich wußte ja selber nicht, wie wirklich sie war, es war mir immer, als beschäftige sie mich im Grunde nur; sie klang durch mein Leben wie ein feines, geistvolles Gedicht, sie umschlang mich niemals mit starken Armen, sie hatte Schwingen – nur Schwingen. Das glaubte ich, ich wußte es ja nicht besser bis zu diesem Augenblick, oder bis damals, wo ich den Schritt getan, wo ich ›ja‹ gesagt. Es kam auch so eigentümlich, es war da so vielerlei, was mit hineinspielte; so viele, auf die man Rücksicht nehmen mußte.
Mit meinem Bruder Hardenskjold fing die Sache an, du weißt ja, derselbe, der damals nach Westindien ging. Er war hier ein wenig wild gewesen, aber da drüben wurde er dann vernünftig; er verband sich mit jemand, verdiente viel Geld und heiratete eine reiche Witwe, eine entzückende kleine Person, versichere ich dir, und dann kam er nach Hause, und dann war zwischen ihm und dem Vater alles wieder gut, denn Hatte war völlig verändert, o, er ist so achtungsbedürftig geworden, so besorgt, daß die Leute etwas sagen könnten, gräßlich beschränkt, sage ich dir! Natürlich meinte er, es wäre das einzige Richtige, daß ich wieder mit meiner Familie auf guten Fuß käme, und er predigte und bat und quälte mich jedesmal, wenn er zu mir kam, und der Vater ist ja auch schon ein alter Mann, und da gab ich denn endlich nach, und nun ist wieder alles wie in den alten Tagen.«
Frau Boye hielt einen Augenblick inne, dann nahm sie ihre Mantille ab und ihren Hut, und dann zog sie[145] auch ihre Handschuhe aus, und während sie hiermit beschäftigt war, wandte sie sich ein wenig von Niels ab und fuhr fort: »Ja, und dann war da ein Freund von Hatte, der sehr angesehen ist, außerordentlich angesehen, und sie meinten alle, ich sollte es nur tun, sie wünschten es so sehr, und weißt du, dann könnte ich meinen alten Platz unter den Leuten wieder einnehmen, ja eigentlich einen noch bessern, weil er in jeder Hinsicht so angesehen ist, und danach hatte ich mich ja so lange gesehnt. Ja, das kannst du nun nicht verstehen, das hast du dir wohl nicht von mir gedacht? Ganz das Gegenteil, nicht wahr? Weil ich mich immer über die Gesellschaft lustig machte, über alle ihre hergebrachten Dummheiten und ihre Patentmoral, über ihren Tugendthermometer und ihren Weiblichkeitskompaß – du weißt wohl noch, wie witzig wir waren! Es ist zum Weinen, Niels, es war nicht wahr, wenigstens nicht immer, denn ich will dir etwas sagen, Niels, wir Frauen, wir können uns wohl für eine Zeit losreißen, wenn uns etwas in unserem Leben die Augen geöffnet hat für den Freiheitsdrang, der doch in uns wohnt, aber wir halten nicht aus, wir haben nun einmal eine Leidenschaft in unserem Blute für das Korrekte des Korrekten bis hinauf zu der geziertesten Spitze des Schicklichen. Wir können es auf die Dauer nicht aushalten, Krieg zu führen dagegen, was doch nun einmal von all den gewöhnlichen Sterblichen anerkannt worden ist; im Innersten unseres Herzens finden wir doch, daß sie recht haben, weil sie es sind, die das Urteil fällen, und wir[146] beugen uns vor ihnen und leiden im stillen unter ihrem Urteil, so keck wir uns auch vor der Welt anstellen. Wir Frauen sind nun einmal nicht dazu geschaffen, Ausnahmen zu bilden, Niels, wir werden so eigentümlich dadurch, vielleicht ein wenig interessanter, aber sonst – kannst du das verstehen? Nicht wahr, du findest es erbärmlich? Aber du kannst sicher begreifen, welch wunderbaren Eindruck es auf mich machen mußte, so zu den alten Umgebungen zurückzukehren. Da sind so viele Erinnerungen, so vieles, was mir das Andenken an meine Mutter zurückruft, die Anschauungen, die sie hatte; es war mir, als wäre ich wieder in den Hafen gekommen, alles war so gut und richtig, und ich brauchte mich dem allen nur anzuschließen, brauchte mich nur zu binden, um für mein ganzes Leben glücklich zu werden. Und so ließ ich mich denn binden, Niels!«
Niels konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, er fühlte sich ihr überlegen, und sie tat ihm leid, wie sie so dastand, so jugendlich unglücklich über ihr Selbstbekenntnis. Es ward ihm weich ums Herz, er konnte auch nicht ein einziges hartes Wort finden.
So trat er denn zu ihr hin. Sie hatte inzwischen den Stuhl herumgedreht, sank darauf nieder und saß nun matt und weltverlassen da, zurückgelehnt, die Arme schlaff herabhängend, mit erhobenem Gesicht und halbgesenktem Blick. Sie starrte durch das dämmerige Zimmer und die beiden Stuhlreihen bis hinaus in das dunkle Vorzimmer.[147]
Niels legte den Arm auf die Stuhllehne und beugte sich, die Hand auf die Seitenlehne gestützt, über sie hinab. »Und mich hattest du ganz vergessen?« flüsterte er.
Es war, als hörte sie es nicht, sie schlug nicht einmal die Augen auf. Endlich schüttelte sie den Kopf leise, und nach einer kleinen Weile abermals.
Es war anfangs ganz still um sie her; dann hörte man auf der Treppe ein Mädchen gehen und trällern und Schlösser putzen, und das Rütteln der Türgriffe unterbrach ihr Schweigen und machte es, als es plötzlich wieder eintrat, nur um so fühlbarer. Dann verstummte das Geräusch wieder; man hörte nur noch das leise, schläfrige, taktmäßige Anschlagen der Sommerläden.
Die Stille nahm ihnen die Stimme, und auch beinahe die Gedanken. Sie saß noch immer unverändert da, den Blick unverwandt auf das dunkle Vorzimmer gerichtet, und er stand noch immer an demselben Fleck, über sie gebeugt, auf das Muster ihres seidenen Schoßes starrend, und unbewußt, wie durch das süße Schweigen verlockt, fing er an, sie im Stuhle hin und her zu wiegen.
Sie schlug langsam ihre Augen auf und warf einen Blick auf sein schwach beschattetes Gesicht, dann senkte sie sie wieder in stillem Wohlbehagen. Es war ein langes Umfangen, es war, als gebe sie sich seiner Umarmung hin, wenn der Stuhl zurückflog, und wenn er vorwärts schnellte, so daß ihre Füße den Boden berührten, so war etwas von ihm in dem leichten Druck des Fußes gegen den Boden. Auch er fühlte das, das Wiegen fing an,[148] ihn zu interessieren, und allmählich wiegte er stärker, es war ihm, als käme sie ihm immer näher und näher, je länger er den Stuhl zurückhielt, und es lag gleichsam eine Erwartung in der Sekunde, in der er wieder zurückschnellte; und wenn der Stuhl vornüberschaukelte, lag eine eigenartige Befriedigung in dem Klappen, mit dem ihre Füße willenlos gegen den Boden schlugen, und es war ein Gefühl des Besitzens, wenn er den Stuhl noch mehr vornüber zwang und ihre Fußsohlen leise gegen den Boden preßte, so daß die Knie sich ein wenig hoben.
»Wollen wir nicht träumen!« sagte Niels mit einem plötzlichen Seufzer und ließ den Stuhl fahren.
»Ja«, sagte sie beinahe flehend und sah ihn unschuldsvoll mit großen, wehmutstrunkenen Augen an.
Sie hatte sich langsam erhoben.
»Nein, nicht träumen«, wiederholte Niels erregt und legte seinen Arm um ihren Leib. Es sind der Träume genug zwischen uns hin und her geflogen, hast du das nie bemerkt? Haben sie dich nie gestreift, wie ein flüchtiger Atem, der Wange oder Haar berührt? Ist es möglich, hat die Nacht niemals von den Seufzern gebebt, die einer nach dem anderen sterbend auf deine Lippen herabschwebten?
Er küßte sie, und es war ihm, als würde sie weniger jung unter seinem Kuß, weniger jung, aber schöner, glühend schön, betörend!
»Du sollst es wissen,« sagte er, »du weißt es, wie sehr ich dich liebe, wie ich gelitten und entbehrt habe. Wenn die Zimmer am Walle reden könnten, Tema!«[149]
Er küßte sie wieder und wieder, und sie schlang ihre Arme heftig um seinen Hals und fragte: »Was könnten denn die Zimmer erzählen, Niels?«
»Tema, könnten sie sagen, tausendmal und öfter, sie könnten flehen in dem Namen, sie könnten dann seufzen und schluchzen; Tema, sie könnten aber auch drohen!«
»Könnten sie das?«
Von der Straße herauf tönte durch die geöffneten Fenster eine Unterhaltung, vollständig und unverkürzt, die gleichgültigste Weisheit der Welt in den abgedroschensten Alltagsworten, schleppend ineinander gezogen von zwei stimmungslosen Redewerkzeugen. Die ganze Prosa drang herein zu ihnen, während sie so Brust an Brust dastanden im Schutze des weichen, gedämpften Lichtes.
»Wie ich dich liebe, du Süße, Teure, in meinen Armen, du bist so gut, o, so gut! Und dein Haar! – Ich kann kaum reden, und alle die Erinnerungen, wie ich geweint habe, und wie unglücklich ich war, und wie ich mich sehnte, so unsäglich sehnte, die alle dringen auf mich ein, drängen sich vor, als wollten sie nun glücklich sein mit mir im Glück – kannst du das verstehen? Weißt du noch, Tema, weißt du noch jene mondhellen Nächte im vorigen Jahre? Liebst du den Mondschein? Ach, du weißt nicht, wie grausam er sein kann. So eine mondklare Nacht, wenn die Luft in dem kühligen Lichte erstarrt und die Wolken so langgezogen daliegen, Blumen und Laub halten ihren Duft so fest, als wäre es ein Rauch von Wohlgerüchen, der über ihnen liegt, und alle Laute werden[150] so fern und schwinden so plötzlich, weilen nicht; eine solche Nacht ist unbarmherzig, denn die Sehnsucht wird so stark in ihr, sie saugt das Herz mit starken Lippen aus, und da blinkt keine Hoffnung, schlummert keine Verheißung in all der kalten, starren Klarheit. O, wie ich da geweint habe, Tema! Tema, hast du nie so eine mondhelle Nacht durchweint? Geliebte, es wäre ja unrecht, wenn du weinen wolltest; du sollst nicht weinen. Es soll stets Sonnenschein um dich her sein, und Rosennächte, eine Rosennacht.«
Sie war ganz hingesunken in seine Umarmung, und den Blick in den seinen verloren, murmelten ihre Lippen süße Liebesworte, halb erstickt von ihrem Atem, und sie wiederholte die Worte, die vorhin gesprochen worden waren, als flüsterte sie sie ihrem Herzen zu.
Die Stimmen draußen entfernten sich, die Straße hinauf. Dann kehrten sie wieder, taktmäßig unterbrochen von dem kurzen Stoßen eines Stockes, der gegen die Steine schlug, dann entfernten sie sich abermals nach der anderen Seite, dann wurden sie schwächer und erstarben endlich.
Und das Schweigen um sie her schwoll wieder an, herzklopfend, bedrückend, atemraubend. Die Worte waren ihnen versiegt, die Küsse fielen schwer von ihren Lippen, wie zögernde Fragen, aber sie trugen keine Erlösung in sich, kein Genießen der Gegenwart. Sie wagten es nicht, die Augen voneinander abzuwenden, und wagten auch nicht, ihren Blicken Worte zu leihen, sie verschleierten[151] sie gleichsam, verbargen sich gleichsam dahinter voreinander, schweigend über geheimnisvollen Träumen brütend.
Plötzlich ging ein Beben durch seine Umarmung, das erweckte sie, und die Hände gegen seine Brust stemmend, riß sie sich los.
»Geh, Niels, geh, du darfst nicht hier sein, du darfst nicht, hörst du!«
Er wollte sie an sich ziehen, sie aber drängte ihn zurück, wild und bleich. Sie zitterte am ganzen Leibe und stand da, die Arme von sich gestreckt, als wage sie es nicht, sich selber zu berühren.
Niels wollte knien und ihre Hand ergreifen.
»Du darfst mich nicht anrühren! Es lag Verzweiflung in ihrem Blick. Warum gehst du nicht, wenn ich dich doch bitte! Mein Gott, kannst du denn nicht gehen? Nein, nein, du sollst nicht reden, verlaß mich jetzt! Kannst du nicht sehen, wie ich vor dir zittere? Sieh, sieh! O, es ist ein Unrecht, wie du gegen mich handelst! Und ich bitte dich doch!«
Es war ihm unmöglich, ein Wort hervorzubringen, da sie nicht hören wollte. Sie war ganz außer sich, Tränen entströmten ihren Augen, ihr Gesicht war fast verzerrt und leuchtete förmlich, so bleich war es. Was sollte er anfangen?
»Willst du denn nicht gehen? Kannst du nicht sehen, wie du mich durch dein Bleiben mißhandelst, du mißhandelst mich, ja, das tust du. Was habe ich dir getan,[152] daß du so schlecht gegen mich bist! Ach geh, hast du denn gar kein Mitleid mit mir?«
Mitleid! Er war eiskalt vor Zorn. Das war ja Wahnsinn! Dabei war nichts weiter zu tun, als zu gehen. Und er ging. Die beiden Reihen Stühle berührten ihn unangenehm, aber er ging langsam dazwischen durch und schaute sie starren Blickes an, als wollte er ihnen trotzen.
»Exit, Niels Lyhne,« sagte er, als er die Tür des Vorzimmers hinter sich ins Schloß warf.
Er ging bedächtig die Treppe hinunter, den Hut in der Hand. Auf dem Absatz hielt er an und sagte zu sich selber: Wenn ich nur das geringste von alledem verstehen könnte! Warum dieses und warum jenes? Dann ging er weiter. Dort waren die geöffneten Fenster. Er hatte die größte Lust, mit gellem Ruf das abscheuliche Schweigen da oben zu unterbrechen, oder jemand hier zu haben, mit dem er sprechen könnte, stundenlang, um das Schweigen durch Geschwätz zu übertönen, es gleichsam zu ertränken im Geschwätz. Er konnte das Schweigen nicht loswerden aus seinem Blute, er konnte es sehen, es schmecken, er watete förmlich darin. Plötzlich hielt er inne und ward blutrot vor verbitterter Scham: hatte sie sich mit ihm versuchen wollen?
Oben stand Frau Boye noch immer und weinte. Sie hatte sich vor den Spiegel gestellt, stand mit beiden Händen auf die Konsole gestützt und weinte, daß ihr die Tränen von den Wangen herabströmten und in das rosenrote Innere der Muscheln fielen, die da lagen. Sie sah[153] ihr verstörtes Gesicht an, wie es über dem Nebelfleck, den ihr Atem auf dem Glase gebildet hatte, zum Vorschein kam, und sie verfolgte die Tränen, wie sie über die Augenränder drangen und herabrollten. Woher kamen sie wohl so unaufhörlich! So hatte sie noch nie geweint. Ja doch, einmal in Frascati, als die Pferde mit ihr durchgegangen waren.
Allmählich wurden die Tränen spärlicher, nur ein unruhiges Zucken lief ihr noch stoßweise vom Nacken bis zu den Fersen hinunter.
Die Sonne schien jetzt voller ins Zimmer; der zitternde Widerschein der Wellen zog sich schräge hinauf an die Decke, und an den Sommerläden drangen ganze Reihen paralleler Strahlen hindurch, ganze Streifen goldigen Lichtes. Die Wärme nahm zu, und durch die mit dem Geruch des erwärmten Holzes und des sonndurchglühten Staubes erfüllte Luft wogten jetzt noch andere Düfte, denn aus den gestickten Blumen der Sofakissen, aus der seidenen Rundung des Stuhlrückens, aus den Büchern und aufgerollten Teppichen löste die Wärme hundert vergessene Gerüche, die gespensterhaft durch die Luft zogen.
Allmählich verlor sich auch das Zittern, das Frau Boye befallen hatte, und hinterließ nur eigenartigen Schwindel, in welchem phantastische Gefühle, halbe Empfindungen in der Spur ihrer staunenden Gedanken dahinzogen. Sie schloß ihre Augen, blieb aber stehen, das Gesicht dem Spiegel zugewendet.
Sonderbar! wie es so über sie gekommen war, diese[154] Angst zum Aufschreien! Hatte sie geschrien? Ihr klang ein Schrei in die Ohren, und sie fühlte eine Ermattung im Halse wie nach einem langen, angstvollen Schrei. Wenn er sie an sich gerissen hätte, hätte sie da die Kraft, hätte sie den Willen gehabt, ihn zurückzustoßen?
Sie öffnete langsam ihre Augen und blickte verstohlen lächelnd zu ihrem Spiegelbilde auf wie zu einem Mitwisser, mit dem sie sich nicht allzuweit einlassen dürfte; dann ging sie durchs Zimmer und suchte Handschuhe, Hut und Mantille zusammen.
Der Schwindel war wie weggeblasen. Die Schwäche, die sie noch immer in den Gliedern fühlte, war ihr angenehm, und um sie besser zu fühlen, fuhr sie fort, umherzugehen. Heimlich, gleichsam zufällig gab sie dem Schaukelstuhle einen kleinen vertraulichen Stoß mit dem Ellenbogen.
Sie liebte gar zu sehr eine Szene.
Dann nahm sie mit einem Blicke Abschied von etwas Unsichtbarem, zog die Läden auf, und wie mit einem Schlage war das Zimmer ein anderes.
Drei Wochen später war Frau Boye verheiratet, und Niels Lyhne war sich jetzt selbst überlassen.
Noch immer konnte Niels seinen Zorn darüber nicht verwinden, daß sie sich der Gesellschaft, die sie so oft verspottet hatte, so unwürdig in die Arme geworfen hatte. Die Gesellschaft hatte sicher nur die Tür geöffnet und gewinkt, da war sie auch schon eingetreten. Aber war das ein Grund, daß er mit Steinen nach ihr warf? Hatte[155] er nicht selber die magnetische Anziehungskraft der braven Spießbürgerlichkeit gefühlt? Aber dies letzte Beisammensein, wenn sich das so verhielt, wie er vermutete, wenn das ein leichtfertiger Abschied von dem alten Leben hatte sein sollen, der letzte wilde Streich, ehe sie sich zurückzog in das »Korrekteste des Korrekten!« War das möglich? Eine so grenzenlose Selbstverachtung, die ihn mit hineinzog in den Hohn, ihn wie alles andere, was sie miteinander gemein gehabt hatten an Erinnerung und Hoffnung, an Begeisterung und heiligen Ideen! Er errötete, er raste.
War er aber gerecht? Denn, auf der anderen Seite, was hatte sie weiter getan, als ihm offen und ehrlich gesagt: das und das zieht mich nach der anderen Seite, zieht mich mit aller Gewalt, aber ich erkenne dein Recht an, und zwar mehr, als du verlangst, und hier bin ich; kannst du mich nehmen, so nimm mich; wenn nicht, so muß ich dahin, wo die Macht am größten ist. Und wenn es sich nun einmal so verhielt, war sie da nicht in ihrem Rechte? Er hatte sie nicht genommen, es konnte ja bei der ganzen Entscheidung auf eine Kleinigkeit ankommen, auf den Schatten eines Gedankens, den Ton in einer Stimmung.
Wenn er nur gewußt hätte, was sie doch eine Sekunde lang gewußt haben mußte, was sie jetzt aber vielleicht nicht mehr wußte. Er wollte so ungern glauben, wovon er sie doch so schwer freisprechen konnte. Nicht allein um ihrer selbst willen – das war im Grunde[156] das wenigste –, aber es war ihm, als sei seine Fahne dadurch befleckt. Logisch betrachtet, freilich nicht, und doch!
Wie sie ihn nun auch verlassen haben mochte, das eine stand fest: er war jetzt allein, und er empfand es als eine Entbehrung, aber gleich darauf auch als eine Erleichterung. Es gab so viel, was seiner wartete. Das Jahr auf Lönborggaard und im Auslande war, wie sehr es ihn auch in Anspruch genommen hatte, eine unfreiwillige Ruhe gewesen, und der Umstand, daß er sich in diesem Jahre auf so mancherlei Weise klarer über seine Vorzüge und Mängel geworden war, konnte ja nur seinen Durst vermehren, in ungestörter Arbeit seine Kräfte zu gebrauchen. Nicht um zu schaffen, das eilte nicht, aber um zu sammeln. Es gab so viel, was er sich aneignen mußte, so unübersehbar viel, daß er anfing, die Kürze des Lebens mit mißtrauischen Blicken zu messen. Er hatte auch früher die Zeit nicht vergeudet, aber man macht sich nicht so leicht unabhängig von dem väterlichen Bücherschranke, und es liegt so nahe, auf derselben Bahn weiterzuschreiten, die andere zum Ziele geführt hat, und deshalb hatte er sich nicht selber ein »Vinland« in der weiten Welt der Bücher aufgesucht, sondern war gefahren, wie die Väter vor ihm gefahren waren, hatte autoritätsgläubig seine Augen für vieles verschlossen, was ihm gewinkt, um besser in die große Nacht der Edda und der Sagen hineinsehen zu können, hatte seine Ohren für vieles verschlossen, was rief, um besser den mystischen Naturlauten des Volksliedes[157] lauschen zu können. Jetzt hatte er endlich begriffen, daß es keine Naturnotwendigkeit war, altmodisch oder romantisch zu sein, und daß es weit einfacher war, seine Zweifel selber auszusprechen, als sie Gorm Lokedyrker in den Mund zu legen, weit natürlicher, einen Laut für die Mystik des eigenen Wesens zu finden, als gegen die mittelalterlichen Klostermauern anzurufen und die eigenen Worte echoschwach zurückzuerhalten.
Für das Neue in der Zeit hatte er ja stets ein offenes Auge gehabt, aber er hatte eigentlich mehr zugehört, wie das Neue dunkel im Alten ausgesprochen war, als daß er auf das gelauscht hätte, was das Neue selber ihm klar und deutlich zurief; und darin lag nichts Merkwürdiges, denn es ist noch niemals ein neues Evangelium hier auf Erden gepredigt worden, ohne daß die Welt nicht sofort mit einer Unmenge von alten Prophezeiungen bei der Hand gewesen wäre.
Aber dazu gehörte etwas anderes, und Niels fiel mit Begeisterung über seine neue Arbeit her; er war von der Eroberungslust ergriffen, von dem Durst nach der Macht des Wissens, den wohl jeder Diener des Geistes, wie demütig er sein Amt auch verrichten mag, einmal empfunden hat, sei es auch nur für eine einzige armselige Stunde. Wer von uns, den ein gütiges Schicksal so gestellt hatte, daß er für die Entwicklung seines Geistes sorgen konnte, wer von uns allen hat nicht mit begeistertem Blicke hinausgestarrt auf das unendliche Meer des Wissens, und wer hat sich nicht hingezogen gefühlt zu seinen klaren,[158] kühlen Wassern, und hat nicht angefangen, in dem leichtgläubigen Übermute der Jugend es mit der hohlen Hand zu schöpfen wie das Kind in der Legende? Weißt du noch, die Sonne konnte über sommerhellem Lande lachen, du sahst weder Blumen noch Wolken noch Quellen; die Feste des Lebens konnten vorüberziehen, sie erweckten keinen Traum in deinem jungen Blute; selbst die Heimat lag dir fern; weißt du das noch? Und weißt du auch noch, wie er sich dann in deinen Gedanken aufbaute aus den gelbwerdenden Blättern, geschlossen und gesammelt, in sich selber ruhend wie ein Kunstwerk, und es war dein Werk in jeder Einzelheit, und dein Geist lebte in dem Ganzen? Wenn die Säulen schlank aufstiegen, mit selbstbewußter Tragkraft in ihrer starken Rundung, so war es ein Teil deines eigenen Ichs, dies kecke Aufsteigen, in dir lag dies stolze Tragen; und wenn die Wölbung zu schweben schien, weil es seine ganze Schwere, Stein auf Stein, gesammelt hatte und sein Gewicht in mächtigen Tropfen auf den Nacken der Säulen senkte, so ward er dein, dieser Traum vom gewichtlosen Schweben, weil die Sicherheit, mit der sich die Wölbung herabsenkte, ja nichts anderes war als du selber, der den Fuß auf sein eigenes Ich setzte.
Ja, so war es, so wächst unser Wesen mit unserem Wissen, klärt sich dadurch, sammelt sich darin. Es ist ebenso schön, zu lernen, wie zu leben. Fürchte nicht, dich selber in Geistern zu verlieren, die größer sind als du selber. Sitze nicht da und grüble ängstlich über der Eigentümlichkeit[159] deiner Seele, verschließe dich nicht vor dem, was Macht hat, aus Furcht, daß es dich mit sich hinabreißen und deine liebe, innerste Eigenheit in seinem mächtigen Strudel mit sich fortreißen könnte. Sei überzeugt, die Eigentümlichkeit, die in dem Ausscheiden und dem Umbilden einer fröhlichen Entwicklung verloren geht, war nur eine Unvollkommenheit, ein im Dunkeln getriebener Sprößling, dessen ganze Eigentümlichkeit darin bestand, daß er krank war an lichtscheuer Blässe. Und von dem Gesunden in dir sollst du leben, aus dem Gesunden heraus entwickelt sich das Große.
Es war ganz unerwartet für Niels Lyhne Weihnachten geworden.
In diesem ganzen verstrichenen Halbjahr war er nirgends zu Besuch gewesen, nur hin und wieder einmal bei dem Etatsrat, und von diesem hatte er auch eine Einladung erhalten, den Weihnachtsabend in seiner Familie zu verbringen. Aber vor einem Jahre hatte er Weihnachten in Clarens gefeiert, und deshalb wünschte er allein zu sein. Einige Stunden, nachdem es dunkel geworden war, ging er aus.
Es war sehr windig. Eine dünne, noch nicht ganz niedergetretene Schneedecke lag in den Straßen und schien sie zu verbreitern, und der Schnee auf den Dächern und Fenstersimsen verlieh den Häusern einen Schmuck, aber zugleich ein vereinsamtes Aussehen. Die Laternen, die im Winde flackerten, jagten ihr Licht geisterhaft an den Mauern entlang, so daß hier und da ein Schild aus seinen[160] Träumen aufschreckte und in großartiger Gedankenleere vor sich hinstarrte. Auch die Ladenfenster, die nur halb erleuchtet waren und deren Schaustellung in der Geschäftigkeit des Tages zerstört worden war, sahen anders aus als sonst: es war etwas eigenartig Insichgekehrtes über sie gekommen.
Niels bog in die Nebenstraßen ein, und hier schien Weihnachten schon in vollem Gange zu sein, denn aus den Kellern und den niederen Erdgeschossen klangen ihm überall Töne entgegen, zuweilen von einer Violine, am häufigsten aber von Handharmonikas herrührend, die sich unverdrossen durch bekannte Tanzmelodien hindurchquälten, und durch die treuherzige Weise, auf die sie vorgetragen wurden, mehr die frohe Arbeit des Tanzes als das eigentlich festliche darin ausdrückten. Aber es lag über dem Ganzen eine gewisse Illusion von schleppenden Tritten und qualmiger Luft; so schien es ihm, dem draußen Stehenden, den seine Einsamkeit gegen jegliche Geselligkeit feindselig stimmte. Er hatte mehr Sympathie für den Arbeitsmann, der vor dem matt erleuchteten Fenster des kleinen Kramladens stand und mit seinem Kinde über eins der billigen Wunder da drinnen verhandelte, und der so besorgt schien, eine unwiderrufliche Wahl zu treffen, bevor sie sich in die Höhle der Versuchung wagten. Und dann diese alten, einfachen Damen, die in Mengen des Weges gingen, eine nach der anderen, fast alle hundert Schritt; alle mit den wunderbarsten Mänteln aus längst entschwundenen Zeiten, und alle mit leisen, menschenscheuen[161] Bewegungen ihrer alten Hälse, ganz wie mißtrauische Vögel, und mit etwas Unsicherem, Weltentwöhntem in ihrem Gange, als hätten sie Tag für Tag da oben in den Mansardenstübchen der Hinterhäuser gesessen und wären nur an diesem einen Abend ins Freie gelassen worden. Er wurde traurig, als er daran dachte, und es stieg ein krankhaftes Gefühl in seinem Herzen auf, als er sich träumend in das langsam verrinnende Dasein so einer einsamen alten Jungfer versetzte, und er hörte vor seinen Ohren das langsame Ticktack einer Wanduhr peinlich taktfest die inhaltslosen Sekunden in die Schale des Tages tröpfeln.
Er mußte suchen, den Weihnachtsabend zu überstehen, und so ging er denn denselben Weg zurück, den er gekommen war, mit einem halbbewußten Grauen, daß in den anderen Straßen neue Einsamkeiten dämmerten, andere Verhältnisse auftauchten als die, die ihm hier entgegengetreten waren und die ihn so bitter gestimmt hatten.
Draußen in den großen Straßen atmete er freier auf, er ging schneller, mit einem gewissen Trotz in seinem Gang, und befreite sich davon, was ihn eben noch so unangenehm berührt hatte, durch den Gedanken, daß er ja seine Einsamkeit freiwillig gewählt habe.
So trat er in eines der größeren Restaurants ein.
Während er dasaß und auf die Speisen wartete, beobachtete er hinter einer alten Zeitungsbeilage die Leute, die da eintraten. Es waren fast ausschließlich junge Menschen;[162] einige von ihnen kamen allein, in herausfordernder Haltung, als wollten sie die Anwesenden verhindern, sie für Leidensgenossen anzusehen, andere konnten es gar nicht verbergen, daß es ihnen peinlich war, an einem solchen Abend nicht eingeladen zu sein, aber alle hatten sie eine ausgeprägte Vorliebe für einsame Ecken und abseits stehende Tische. Viele kamen paarweise, und den meisten von diesen Paaren konnte man es ansehen, daß sie Brüder waren; Niels hatte niemals so viele Brüder auf einmal gesehen; oft waren sie sehr verschieden in Kleidung und Wesen, und noch deutlicher zeugten ihre Hände davon, wie verschiedenartig oft ihre Lebensstellungen waren. Es war nur sehr selten, sowohl wenn sie kamen, wie auch später, wenn sie saßen und miteinander sprachen, ein wirklich vertrauliches Verhältnis zwischen ihnen zu entdecken: bald war der eine der überlegene und der andere der bewundernde, bald war der eine entgegenkommend und der andere zurückweisend; hier herrschte eine wachsame Vorsichtigkeit auf beiden Seiten, dort, was noch schlimmer war, eine stillschweigende Geringschätzung der gegenseitigen Ziele, Hoffnungen und Mittel. Für die allermeisten bedurfte es offenbar eines solchen Heiligenabends und, damit verbunden, einer gewissen Verlassenheit, um sie an ihre gemeinsame Herkunft zu erinnern, sie miteinander zu vereinigen.
Während Niels dasaß und hierüber nachdachte, wie auch über die Geduld, mit der alle diese Menschen warteten und weder klingelten noch laut nach den Kellnern[163] riefen, als wollten sie nach stillschweigender Übereinkunft das Restaurationsgepräge, so gut es ging, fernhalten, während er an alles dachte, sah er einen seiner Bekannten eintreten, und dieser plötzliche Anblick eines bekannten Gesichtes nach allen den fremden kam ihm so überraschend, daß er sich nicht enthalten konnte, aufzustehen und den Eintretenden mit einem freudigen, aber zugleich verwunderten Guten Abend! zu begrüßen.
»Warten Sie auf jemand?« fragte der andere, und sah sich nach einem Haken für seinen Überrock um.
»Nein, solo!«
»Das trifft sich ja ausgezeichnet!«
Der Neuangekommene war ein Doktor Hjerrild, ein junger Mann, den Niels zuweilen bei dem Etatsrat getroffen hatte und von dem er wußte, zwar nicht aus seinem eigenen Munde, sondern durch neckende Äußerungen der Etatsrätin, daß er in religiöser Hinsicht sehr frei sei. Aus seinem eigenen Munde dagegen wußte er, daß Hjerrild in politischer Beziehung ganz das Gegenteil war.
Dieser Art Menschen begegnete man sonst eigentlich nicht bei Etatsrats, die sowohl kirchlich als auch liberal waren, und der Doktor gehörte auch im Grunde vermöge seiner Anschauungen wie durch seine verstorbene Mutter zu einem jener damals nicht seltenen Kreise, wo man die neue Freiheit teils mit zweifelnden, teils mit feindlichen Blicken betrachtete, und wo man in religiöser Hinsicht mehr als rationalistisch und weniger als atheistisch war, wenn man nicht, was auch vorkommen konnte,[164] indifferent oder mystisch war. Man fand in diesen übrigens sehr verschieden abgestuften Kreisen die Ansicht, daß Holstein dem Herzen wenigstens ebenso nahe stehe wie Jütland, man hatte kein Verwandtschaftsgefühl mit Schweden und war nicht unbedingt für das Dänentum in seinen neudänischen Formen. Schließlich kannte man Molière gründlicher als Öhlenschläger und war, was den Kunstgeschmack betraf, vielleicht ein wenig süßlich.
Unter Einwirkung von solchen oder doch nahe verwandten Anschauungen und Sympathien hatte sich Hjerrild entwickelt.
Er saß da und sah Niels mit einem unsicheren Blick an, wie dieser ihm seine Beobachtungen, die anderen Gäste betreffend, mitteilte und besonderen Nachdruck darauf legte, daß dieselben sich beinahe schämten, nicht ein Heim oder eine heimische Stätte zu haben, die sie an diesem Abende hätte zu sich ziehen können.
»Ja, das kann ich nur zu gut verstehen«, sagte Hjerrild laut, beinahe abweisend. »Man kommt am Weihnachtsabend nicht aus freien Stücken hierher, und das demütigende Gefühl, so ausgeschlossen zu sein, mag es nun freiwillig oder durch andere geschehen, kann nicht ausbleiben. Wollen Sie mir sagen, weswegen Sie hier sind? Wenn Sie nicht wollen, so sagen Sie nur nein!«
Niels antwortete, daß er den letzten Weihnachtsabend mit seiner verstorbenen Mutter verlebt habe.
»Ich bitte Sie um Verzeihung,« sagte Hjerrild, »es war sehr liebenswürdig von Ihnen, mir zu antworten,[165] aber Sie müssen es mir nicht übelnehmen, ich bin sehr mißtrauisch. Ich will Ihnen sagen, daß man sich Leute denken könnte, welche hierherkommen, nur um dem Weihnachtsfeste einen jugendlichen Fußtritt zu geben, und ich selber, müssen Sie wissen, befinde mich hier aus lauter Respekt vor der Weihnachtsfeier der anderen. Es ist dies der erste Weihnachtsabend, den ich nicht in einer liebenswürdigen Familie verlebt habe, die ich aus meiner Vaterstadt kenne, aber es ist mir so vorgekommen, als ob ich ihnen im Wege wäre, wenn sie ihre Weihnachtslieder singen. Nicht gerade, daß sie sich geniert hätten, dazu waren sie viel zu brav, aber es berührte sie unangenehm, daß jemand zwischen ihnen saß, für den diese Lieder nur in die Luft gesungen wurden – wenigstens glaube ich das.«
Niels und Hjerrild nahmen ihre Mahlzeit fast schweigend ein, zündeten dann ihre Zigarren an und beschlossen, in ein anderes Lokal zu gehen, um dort ihren Toddy zu trinken. Keiner von ihnen hatte Lust, heute abend die vergoldeten Spiegelrahmen und roten Sofas anzusehen, die sie Tag für Tag das ganze Jahr hindurch vor Augen hatten, deswegen begaben sie sich in ein kleines Café, in dem sie sonst nie verkehrten.
Sie sahen aber bald, daß hier keine bleibende Stätte war. Der Wirt, die Kellner und ein paar Freunde saßen im Hintergrunde der Stube und spielten Dreikart mit zwei Trümpfen; die Frau und die Töchter des Wirts sahen zu und sorgten für die Bedienung dieses Tisches,[166] nicht aber für sie. Einer der Kellner brachte ihnen endlich das Verlangte. Sie beeilten sich mit ihrem Getränke, denn sie fühlten, daß sie störten, man sprach weniger laut, und der Wirt, der vorhin in Hemdsärmeln dagesessen, hatte sich nicht überwinden können, sitzen zu bleiben, sondern war in seinen Rock gefahren.
»Wir sind heute doch ziemlich obdachlos«, meinte Niels, als sie sich abermals auf der Straße befanden.
»Ja, das ist ganz in der Ordnung«, erwiderte Hjerrild etwas pathetisch.
Sie begannen ein Gespräch über das Christentum, das Thema lag ja gleichsam in der Luft.
Niels sprach heftig, aber in ziemlich allgemeinen Redensarten gegen das Christentum.
Hjerrild hatte es satt, die Erörterungen, die für ihn etwas Altes waren, von neuem aufzunehmen, deswegen sagte er plötzlich ohne allzu viel Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen: Nehmen Sie sich in acht, Herr Lyhne; das Christentum besitzt Macht. Es ist dumm, es mit der regierenden Wahrheit zu verderben, indem man für die Thronfolgerwahrheit agitiert.
»Dumm oder nicht dumm, solche Rücksichten müssen hier schweigen.«
»Sagen Sie das nicht so leichtsinnig; es war nicht meine Absicht, Ihnen die Trivialität zu sagen, daß es in materieller Hinsicht dumm sei, in ideeller Hinsicht ist es dumm, und mehr als das. Nehmen Sie sich in acht; wenn es nicht unumgänglich notwendig für Ihre Persönlichkeit[167] ist, so schließen Sie sich nicht allzu fest gerade an diese Richtung der Gegenwart an. Als Dichter haben Sie ja so viele andere Interessen.«
»Ich verstehe Sie nicht; ich kann doch nicht mit mir verfahren wie mit einem Leierkasten, ein weniger populäres Stück herausnehmen und ein anderes dafür einsetzen, das alle Welt auf den Gassen singt und pfeift!«
»Das könnten Sie nicht? Es gibt doch Menschen, die das können. Aber könnten Sie nicht etwa sagen: dies Stück wird nicht gespielt? Man kann im allgemeinen in dieser Richtung weit mehr, als man glaubt. So eng hängt ein Mensch nicht zusammen. Wenn Sie Ihren rechten Arm stets gewaltsam benutzen, so strömt ihm das Blut im Übermaße zu, dadurch nimmt er auf Kosten der anderen Glieder an Wachstum zu, während die Beine, die Sie nur soviel gebrauchen, als durchaus notwendig ist, ganz von selber dünn und kraftlos werden. Die Nutzanwendung des Bildes können Sie selber machen. Achten Sie nur darauf, wie die meisten und auch wohl die besten ideellen Kräfte hier bei uns sich ausschließlich der politischen Freiheit zugewendet haben. Beachten Sie das, und lassen Sie sichs zur Lehre dienen. Glauben Sie mir, es ist ein erlösendes Glück für einen Menschen, für eine Idee zu kämpfen, die eine Zukunft hat, während es auf der anderen Seite sehr entsittlichend ist, zu der unterliegenden Minderheit zu gehören, der das Leben durch die Richtung, in der es sich entwickelt, Punkt für Punkt und Schritt für Schritt unrecht gibt. Es kann nicht anders[168] sein, denn es ist so bitterlich entmutigend, das, von dessen Wahrheit und Berechtigung man im tiefsten Innern der Seele überzeugt ist, diese Wahrheit von jedem elenden Troßknechte des siegreichen Heeres verhöhnt, sie ins Angesicht geschlagen zu sehen, es mit anhören zu müssen, wie sie mit Schandnamen geschmäht wird, und doch nichts dagegen tun zu können, als sie nur noch treuer zu lieben, mit noch tieferer Ehrfurcht im Herzen vor ihr zu knien, ihre schöne Erscheinung stets ebenso strahlend schön, ebenso voller Hoheit und unsterblichen Lichtes zu sehen, wie viel Staub auch gegen ihre weiße Stirn aufgewirbelt werden, ein wie dichter und giftiger Nebel auch ihre Gloire verhüllen mag. Es ist bitterlich entmutigend, und es kann nicht ausbleiben, daß die Seele Schaden darunter leidet, denn es liegt so nahe, sein Herz müde zu hassen, die kalten Schatten des Verachtens um sich zu sammeln und die Welt schmerzensmüde ihren Gang gehen zu lassen. Natürlich, wenn man das in sich trägt, daß man, statt das Leichtere zu wählen und sich selbst aus allem Verbande mit dem Ganzen zu lösen, sich aufrecht halten und mit gespannten Kräften, mit wachsamen Sympathien den vielstacheligen Geißelschlag der Niederlage hinnehmen kann, so wie er gerade fällt, Schlag auf Schlag, und doch seine blutende Hoffnung vor dem Wanken behüten, indem man auf die dumpfen Laute lauscht, die den Umschlag der Zeit verkünden, und nach dem schwachen, fernen Schimmer späht, der eines Tages vielleicht erscheinen wird! Wenn man das in sich trägt! Aber versuchen[169] Sie das nicht, Lyhne! Bedenken Sie, was das Leben eines solchen Mannes sein müßte, wenn er wirklich alles täte, was in seinen Kräften steht. Nicht reden zu können, ohne daß Hohn und Spott in der Spur seiner Rede aufwuchert! Alle seine Worte verdreht zu sehen, besudelt, zu schlauen Schlingen mißbraucht, vor seine Füße geworfen, und dann, ehe man sie noch kaum aus dem Kehricht aufgesammelt und wieder entwirrt hat, plötzlich alle Welt taub zu finden! Und dann an einem anderen Punkte von vorn anzufangen, genau mit demselben Erfolge, und wieder und wieder! Und dann, was vielleicht das Schmerzlichste von allem ist, sich verkannt, verachtet zu sehen von edeln Männern und Frauen, zu denen man trotz der verschiedenen Überzeugung mit Bewunderung und Ehrfurcht aufsieht! Und doch muß es so sein, es kann nicht anders sein. Eine Opposition soll nicht erwarten, daß sie deswegen angegriffen wird, was sie wirklich ist und will, sondern einzig und allein deswegen, was die Macht glauben will, daß sie sei und denke; und außerdem, die Macht, die dem Schwachen gegenüber gebraucht wird, und der Mißbrauch der Macht, wie soll sich das trennen lassen? Denn das wird doch wohl niemand verlangen, daß sich die Macht selber schwach machen soll, um gegen die Opposition mit gleichen Waffen kämpfen zu können. Aber darum bleibt der Kampf der Opposition doch ebenso schmerzlich, ebenso aufreibend. Und glauben Sie denn wirklich, Lyhne, daß ein Mann den Kampf wirklich kämpfen kann, sobald alle[170] diese Geierschnäbel auf ihn loshacken, wenn ihm die zähe, blinde Begeisterung fehlt, die man Fanatismus nennt? Und wie in aller Welt soll er etwas Negativem gegenüber fanatisch werden? Fanatisch begeistert für die Idee, daß es keinen Gott gibt! Und ohne Fanatismus kein Sieg! Hören Sie wohl?«
Sie standen vor einem Erdgeschoß, wo man einen der Vorhänge aufgezogen hatte, und durch die geöffnete Luftscheibe klang es von klaren Frauen- und Kinderstimmen hinaus zu ihnen:
Ein Kind, geboren in Bethlehem,
Des freuet sich Jerusalem.
Halleluja, Halleluja!
Schweigend gingen sie weiter. Die Melodie, namentlich die Töne des Flügels, folgte ihnen die stille Straße hinab.
»Hörten Sie wohl,« begann Hjerrild, »die Begeisterung, die durch dies alte hebräische Siegeshurra hindurchklang? und diese beiden jüdischen Städtenamen! Jerusalem, das war nicht nur symbolisch, die ganze Stadt, Kopenhagen, Dänemark; das sind wir, das christliche Volk der Völker!«
»Es gibt keinen Gott, und der Mensch ist sein Prophet«, sagte Niels bitter, aber auch tiefbetrübt.
»Ja, nicht wahr?« spottete Hjerrild. Nach einer Weile sagte er: »Der Atheismus ist doch grenzenlos nüchtern, und sein Endziel ist doch schließlich nichts anderes, als eine Menschheit ohne jede Illusion. Der Glaube an den[171] leitenden, richtenden Gott, das ist die letzte, große Illusion der Menschheit, und wenn sie diese verloren hat, was dann? Dann ist sie klüger geworden, aber reicher, glücklicher? Das glaube ich nicht.«
»Aber«, rief Niels aus, »begreifen Sie denn nicht, daß an dem Tage, wo die Menschheit frei jubeln kann: Es gibt keinen Gott! daß an dem Tage wie auf einen Zauberschlag ein neuer Himmel und eine neue Erde entsteht? Erst dann wird der Himmel jener freie, unendliche Raum, statt eines drohenden Späherauges, erst dann wird die Erde unser, erst dann gehören wir der Erde an, wenn jene dunkle Welt der Seligkeit und der Verdammnis da draußen wie eine Seifenblase zersprungen ist. Die Erde wird unser wahres Vaterland, das Heim unseres Herzens, wo wir uns nicht wie Fremdlinge nur eine kurze Spanne Zeit aufhalten, sondern für die ganze Dauer unserer Zeit. Und welchen Vollgehalt wird das nicht unserm Leben verleihen, wenn dieses Leben alles umschließen wird, wenn außerhalb desselben nichts mehr liegt! Der unendliche Liebesstrom, der jetzt zu dem Gott aufsteigt, an den man glaubt, wird sich, wenn der Himmel leer ist, der Erde zuneigen, wird mit liebenden Armen alle die schönen, menschlichen Eigenschaften und Gaben umfassen, mit denen wir die Gottheit ausgestattet und geschmückt haben, um sie unserer Liebe wert zu machen. Güte, Gerechtigkeit, Weisheit, wer kann sie alle nennen? Begreifen Sie nicht, welchen Adel das über die Menschheit ausbreiten muß, wenn sie ihr Leben frei leben und[172] ihren Tod frei sterben kann, ohne Furcht vor der Hölle oder Hoffnung auf den Himmel, nur sich allein fürchtend, nur auf sich selber hoffend? Wie wird nicht das Gewissen geschärft werden, welche Festigkeit wird es nicht geben, wenn tatenlose Reue und Demut nichts mehr zu sühnen vermögen, wenn es keine andere Vergebung mehr gibt, als daß man durch Gutes das Böse wieder gutmacht, das man verbrochen hat!«
»Sie scheinen einen wunderbaren Glauben an die Menschheit zu haben. Der Atheismus würde danach ja weit größere Forderungen an die Menschen stellen, als das Christentum tut!«
»Ja natürlich!«
»Natürlich? Woher wollen Sie denn alle die starken Persönlichkeiten nehmen, deren sie bedürfen, um ihre atheistische Menschheit zusammensetzen zu können?«
»Der Atheismus soll sie nach und nach selber erziehen; weder dieses Geschlecht noch das nächste, noch die dann folgenden werden den Atheismus ertragen können, das weiß ich wohl; aber in jedem Geschlechte wird es einzelne geben, die sich ehrlich durchkämpfen werden zu einem Leben und zu einem Tode, und diese werden im Laufe der Zeiten eine Reihe geistiger Ahnen bilden, auf die die kommenden Geschlechter mit Stolz zurückblicken und durch deren Betrachtung sie erstarken werden. Im Anfange werden die Bedingungen am härtesten sein, werden die meisten im Kampfe erliegen, und die, die siegen, den Sieg nur mit zerfetzten Fahnen erringen, weil ihr Innerstes[173] noch von Überlieferungen erfüllt sein wird und weil es in einem Menschen noch so viel anderes gibt als Gehirn, so viel, was erst überzeugt werden muß: das Blut und die Nerven, die Hoffnungen, das Sehnen, ja sogar die Träume! Aber darum wird es doch einmal kommen, und aus den wenigen werden viele werden!«
»Glauben Sie das? Ich suche nach einem Namen für Ihre Anschauung – könnte man ihn nicht den pietistischen Atheismus nennen?«
»Jeder wahre Atheismus« – begann Niels, aber Hjerrild unterbrach ihn schnell: »Natürlich,« sagte er, »natürlich! Laßt uns doch nur ein einziges Tor, ein einziges Nadelöhr für alle die Kamele der Erde!«
Ausgewählte Ausgaben von
Niels Lyhne
|
Buchempfehlung
Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.
48 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro