[7] In der Vorrede zu den »Volkssagen aus Pommern und Rügen«1 stellte ich als leitenden Gesichtspunkt auf einmal, meinen Landsleuten ihr Volkstümliches, das dem Ansturm der modernen Kultur kaum lange mehr standhalten dürfte, wenigstens litterarisch zu erhalten, dann aber, vornehmlich, dem Forscher eine zuverlässige Stoffsammlung für seine Studien zu bieten. Der erste Baustein zu dem geplanten Gebäude war eben jene Sagensammlung. Ein Jahr später konnte ich als Festschrift zur Begrüssung des XVII. Kongresses der deutschen anthropologischen Gesellschaft in Stettin pommerschen Volksbrauch und Glauben hinzufügen, soweit sich dieselben auf Hexenwesen und Zauberei beziehen2. Es folgten reiche, in jeder Beziehung vollständige Sammlungen der Trachten, Hausgeräte und sonstigen Bauernaltertümer aus Mönkgut auf Rügen, aus dem Pyritzer Weizacker und aus der alten friesischen Kolonie Jamund bei Cöslin, Sammlungen, wie sie zur Zeit einzigartig in Deutschland dastehen, bei deren Zusammenbringen jedoch das Hauptverdienst meinem verehrten Freunde Alexander Meyer Cohn, dem Mäcen des neubegründeten Museums für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes in Berlin3, zufällt, da er bereitwillig die Mittel zur Verfügung stellte, die Ankäufe in dem von mir für nötig gehaltenen Umfange zu bewerkstelligen. An diese Errungenschaften auf dem Gebiete der handgreiflichen Volkskunde Pommerns schloss sich vor einigen Monaten die Herausgabe der Volksschwänke4. Heute komme ich mit den Volksmärchen.
Keine Art des Volkstümlichen ist schwieriger zu sammeln, als gerade diese. Sage und Brauch finden sich überall, wo Volksglaube besteht, der ist aber noch nirgends in Pommern erloschen. Zur Sammlung[7] der Bauernaltertümer gehörte Geschick und ein Beutel voll Geld, und der Erfolg konnte nicht ausbleiben. Wo findet sich aber das Märchen5?
Zur Beantwortung dieser Frage erlaube ich mir, mit kurzen Worten auf die einzelnen Klassen der Bevölkerung Pommerns einzugehen. Die Unterschiede: Städter und Landvolk, Bürger und Bauer, reich und arm helfen hier wenig; anders steht es mit gebildet und ungebildet. Die Gebildeten – Dickköpfe nennt sie der gemeine Mann und begreift darunter den Edelmann und den Kaufherren, die studierten Leute und die Beamten – tragen fast niemals etwas Volkstümliches in sich, in den weitaus meisten Fällen hassen und verachten sie es sogar, wenn's nicht gerade Modesache geworden ist oder von oben gewünscht wird, für derlei Dinge zu schwärmen. Und die Herren, denen die Sorge für die geistige Pflege des Volkes anvertraut ist, stehen in der Verachtung des Volkstümlichen, mit andern Worten des wirklich Nationalen, obenan. Es ist eben in Pommern in dem Stücke nicht besser, wie anderswo im deutschen Vaterlande.
Was nun die Ungebildeten betrifft, so sind auch sie für unsere Zwecke nur zum geringen Teile zu gebrauchen. In abergläubischen Vorstellungen, alten Bräuchen und Sitten liefern sie freilich dem Ethnologen allesamt schätzbares Material; aber bezüglich der Volkspoesie, die uns hier allein angeht, müssen wir genau den Kleinbürger und Bauer von dem sogenannten vierten Stande trennen. Der Handwerksmeister in dem kleinen Landstädtchen findet nach des Tages Mühen und Lasten seine geistige Erholung beim Glase Bier in der Zeitung. Auch Bücher liest er gerne, ebenso wie seine Angehörigen, sie dürfen schal und flach und abscheulich geschrieben sein, wenn sie nur dabei ungeheuerlich und wüst sind. Ohne gewaltig reiche Taugenichtse und edelmütige Räuber, ohne Fürsten und Grafen, ohne Mord und Todschlag darf's nicht abgehen; er ist die Herzensfreude und das rechte Feld des Zeitungs- und Schauerroman-Schriftstellers. Ist der Meister streng kirchlich gesinnt, so genügt ihm gemeinhin, was sein Sonntagsblatt bietet. Ja, er giebt oft beträchtliche Summen aus, um sich auf dem Gebiet eine kleine Bücherei zu verschaffen.
Der Bauer steht in geistiger Beziehung noch eine gute Stufe niedriger. Sein ganzes Bestreben ist der Erwerb. Haus und Hof zusammenhalten, das Besitztum vergrössern, guten Viehstand haben, Geld auf Zinsen legen oder bar im Kasten verschliessen, dann und wann etwas Tüchtiges drauf gehen lassen, höhere Güter kennt er insgemein nicht. Wenn er überhaupt geistige Bedürfnisse hat, so sind es dieselben, wie die des Kleinbürgers. Die Volkslieder gefallen ihm wohl, aber die Tagelöhner singen sie, darum kann er sie nicht leiden. Das Märchen entspricht nicht den wirklichen Verhältnissen, wie sie[8] sein kalter, nüchterner Verstand begreift, er verachtet es. Nur an der Zote findet er Gefallen, und zotige Geschichten kann man vom reichsten Bauer so gut und in eben solcher Fülle lernen, wie vom ärmsten Arbeitsmann. Sie sind ein hartes Geschlecht die pommerschen Bauern und weicheren Gefühlen kaum zugänglich. Wenn sie sich, was in vielen Gegenden noch das Gewöhnliche ist, mit ganzer Entschiedenheit zum Christentum bekennen, so habe ich sie immer im Verdacht gehabt, und von anderer Seite wird mir diese Beobachtung bestätigt werden, sie thun es nur, um für das unendlich lange ewige Leben sicher zu gehen. Die Anerkennung des höheren Standes der Edelleute und der vornehmen Stadtherren liegt ihnen im Blute, und sie würden ihnen, wenn es darauf ankäme, auch gerne im Himmel die nötige Ehrfurcht bezeugen. Dass aber auch der arme Schlucker in denselben Himmel kommen und mit ihnen gleiche Rechte geniessen soll, dass es keinen besonderen Bauernhimmel giebt, können die wenigsten begreifen. Freilich, wie der Bauer im Himmel reden wird, kann ich nicht wissen, aber wie er hier auf Erden spricht, davon ein kleines Beispiel, welches voll und ganz die Verallgemeinerung verträgt:
Sehe ich da ein bildhübsches Kind, so von drei oder vier Jahren, in einem Bauerhofe und spreche erfreut: »Das ist ja ein niedliches Kind!« Antwortet die sehr ehrenhafte, ihrer Meinung nach durchaus christliche, steinreiche Bäuerin: »Das soll ein niedliches Kind sein? Das ist ja nur ein Taglöhnersjunge, den habe ich geholt, dass mein Kleiner mit ihm spielen möge.«
So bleibt dem Forscher als Quelle für das Volksmärchen nur der vierte Stand übrig; aber selbst der ist nicht in seiner ganzen Masse zu verwerten. In Abzug zu bringen ist zunächst der Fabrikarbeiter von Beruf und Geburt, der in dem Fabrikorte geboren und erzogen ist. Tot für den Forscher ist ferner der streng kirchlich gesinnte Arbeiter. – Es ist merkwürdig, dass jedes volkstümliche Lied und Märchen von diesen Leuten gescheut wird, wie die Pest. Sie fürchten, dem Teufel anheimzufallen, selbst wenn sie den harmlosen Geschichten nur zuhören. Ein Knecht aus dem Hinterpommerschen, welcher in einer Gegend gross geworden war, wo die alten volkstümlichen Vorstellungen noch überall gäng und gäbe sind, antwortete mir auf die Frage, ob bei ihm zu Hause die Leute auch noch die wilde Jagd und die Unnerertschken und den Dråk kennten, aus tiefster Überzeugung: »Gewiss weiss ich's; aber sagen werde ich's nie. Nachdem ich den Heiland angezogen habe, spreche ich mit David: Mein Mund hasset die Lügen und redet die Wahrheit.« Da hilft auch kein Zureden; denn die guten Leute werden in ihrer Verachtung des Volkstümlichen bestärkt durch Prediger und Lehrer, welche die Volkslieder Gassenhauer schelten und von den Märchen erst recht nichts wissen wollen. Wären den Herren die Lieder und Märchen bekannt, sie würden gewiss anderer Meinung sein; so aber verfolgen sie die gute Sache mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln. Was Wunder, dass die jetzt heranwachsende Generation zum überwiegenden Teile[9] durch die Schule der Volkspoesie entfremdet ist! Es bleiben also im grossen und ganzen nur die zum arbeitenden Stande gehörige Landbevölkerung, sowie die Fischer und Matrosen in den mittleren und reiferen Jahren, welche uns für das Volksmärchen Ausbeute versprechen. – Werden sie sich aber offen vor aller Welt der herrlichen Schätze freuen, die sich in ihrer Hut befinden? Der Herr Pastor würde tadeln, der Herr Schulmeister höhnen, der Bauer verachten, der Städter lachen und spotten; darum hört man die Märchen auch nur, wenn die sonst so lebens- und mitteilungslustigen Leutchen ganz unter sich sind oder mit harmlosen Kindern plaudern. Sonst befleissigen sie sich einer ängstlichen Zurückhaltung.
Damit muss der Forscher rechnen. Er muss ins Volk gehen, er muss sich mit ihm zu verquicken verstehen, seine Sprache, seine Sitten, seine Gewohnheiten, seine Anschauungen anzunehmen wissen, er muss es durchsetzen, dass die Leute in ihm einen der Ihrigen erblicken. Und wenn er dann ausserdem zur rechten Zeit den Groschen zu Schluck, den Dreier für Tabak und die Handvoll Zigarren nicht spart, wenn ihn das Glück mit den rechten Leuten zusammen führt, so ist sein Erfolg sicher. Es kostet freilich Jahre mühevoller Arbeit, zu dem ersehnten Ziele zu gelangen; aber die Mühe belohnt sich in überreichlichem Masse. Mir ist's gelungen, in Pommern direkt aus Volkes Mund ein nicht minder grosses Märchenmaterial zusammen zu bringen, als die Gebrüder Grimm in ganz Deutschland aus mündlichen und schriftlichen Quellen geschöpft haben. Doch von den Märchen selbst später, bleiben wir noch ein wenig bei den Leuten, welche das Märchen hegen und pflegen.
Sie allesamt sind darin einig, dass sie ihre Märchen lieben und wert halten; aber die grosse Mehrzahl ist, wie der gemeine Mann sich ausdrückt, nicht gut be hullig. Sie können nicht wiedergeben, was sie gehört haben, und wissen kaum einige Züge, und auch diese nur verschwommen, nachzuerzählen. Um so bereitwilliger preisen sie die grössere Behulligkeit eines guten Freundes oder Gevatters an, der dann auch, wenn man ihn richtig zu nehmen versteht, die paar Märchen, welche er kennt, zum besten giebt. Ist er fertig damit, so spricht er wohl sein Bedauern darüber aus, nicht mehr zu wissen: »Ja, wenn ich behulliger wäre!«, und dann vereinigen sich der nicht Behullige und der etwas Behullige, die Vorzüge irgend eines Mannes zu schildern, der wohl ganze vier Wochen lang Tag und Nacht erzählen könnte und doch kein Ende finden würde. Anfangs glaubte ich nicht recht an die Wahrheit dieser Reden; als ich sie aber immer wieder und wieder hören musste, in welche Gegenden ich auch kam, so begann ich Jagd zu machen auf diese Wundermänner. Lange gelang es mir nicht, irgend eines von ihnen habhaft zu werden – entweder sie waren schon gestorben oder ausgewandert in die neue Welt –; aber wer sucht, der findet auch, und jetzt birgt meine Sammlung die Schätze der vorzüglichsten Märchenerzähler aus den verschiedenen Teilen des Pommerlandes.[10]
Diese wahren Märchenerzähler, welche häufig einen Schatz von fünfzig, sechzig und mehr Märchen in ihrem Gedächtnis bergen – Märchenerzählerinnen in dem Sinne giebt es kaum – sind in unsrer Zeit fast nur unter den Männern in reiferen Jahren zu finden. Sie sind klug in ihrer Art und Meister der Sprache, haben aber etwas Schwermütiges, Träumerisches in ihrem Gesicht und werden deshalb oft von den Gebildeten, welche das Volk nicht kennen, für dumm verschrieen. Von ihren Genossen werden sie hoch geehrt, denn dieselben sehen in ihnen die trefflichen Bezwinger tötlicher Langweile, welche sich ohne den Märchenerzähler gar zu gerne einstellt: bei den Tagelöhnern an den langen Winterabenden, bei den Matrosen an Bord, bei grossen Erdarbeiten zur Regenzeit in den kunstlos aufgeschlagenen Hütten und bei den fahrenden Handwerksburschen und den Landstreichern endlich in der Herberge. Die Verehrung für den Märchenerzähler geht in freilich seltenen Fällen hier und da so weit, dass er von der Kunst zu leben vermag. Nicht nur, dass er in dem Hause, wo er erzählt, frei Essen und Trinken erhält, die Leute beschenken ihn obendrein mit Lebensmitteln und andern Gaben, so dass er der Sorge um das tägliche Brot enthoben wird.
Wie weiss er aber auch seine Märchen vorzutragen! Die Rede fliesst aus seinem Munde, die Augen leuchten ihm, und er reisst seine Hörer mit sich fort, dass sie samt und sonders den innigsten Anteil nehmen an den Helden seiner Erzählungen. Die Spannung der Gemüter ist auf das höchste gestiegen. Der wackere Held, welcher unerkannt seinem König in der Schlacht geholfen hat, ist verwundet worden. Der König springt vom Ross, reisst das seidene Tuch vom Halse und verbindet ihm die Wunden; dann zieht er die goldene Schnupftabaksdose hervor, nimmt daraus, reicht dem Helden, dass er auch nehme, und verehrt sie ihm sodann zum Geschenk. Der schöne Zug gefällt den Zuhörern, und sie äussern sich beifällig; aber der Märchenerzähler hat etwas auf dem Herzen, er wiederholt dieselbe Stelle zum zweiten und zum dritten Male, endlich ruft er laut: »Ja, der alte König gab ihm zu schnupfen aus seiner goldenen Dose, und dann schenkte er sie ihm! Ich will gar keine goldene Dose haben, aber einen Sauren könnte mir doch jemand geben, sonst erzähle ich nicht weiter!« Und das sehen die Zuhörer ein, das Märchen wird an der spannenden Stelle unterbrochen und nicht eher wieder aufgenommen, als bis die Schnupftabaksdose im Kreise herumgewandert ist und auch der letzte geschnupft hat.
Auch Trinkunterbrechungen finden statt und werden ganz ähnlich von dem Märchenerzähler angebracht, wie uns das von den Spielleuten des Mittelalters berichtet wird, wenn sie ihre Epen vortrugen. »Und da ward ein grosses Mahl gefeiert,« sagt der Erzähler, »da gab's Kälberbraten und Schweinebraten und gebratene Hechte; und Bier und Wein gab's auch und Branntwein dazu, so viel einer trinken wollte. Mir ist die Kehle auch schon ganz trocken; ich dächte, man gäbe mir, dass ich einen heben könnte. Sonst muss die Geschichte[11] hier schon ein Ende haben.« Selbstverständlich wird ihm sofort die Flasche gereicht; und nachdem sie gekreist hat, geht es fort im Texte, und das Märchen wird zu Ende gebracht. – Die grösste Aufregung bemächtigt sich der Zuhörer bei den eingeschalteten und angefügten Liedern. Ist ihnen die Weise geläufig, so singen sie allesamt mit; mindestens aber werden die Kehrverse gemeinsam gesungen. Man sieht es den Leuten an, wie sie mit Leib und Seele bei der Sache sind und in ihren Märchen aufgehen.
Doch ich rede hier immer von Märchen, und dabei wird man das Wort schwerlich im Volke finden können, so weit es nicht durch die Gebildeten hinein getragen ist und dadurch hier und da eine scheinbare Volkstümlichkeit erlangt hat. Man wird diesen Fehler verzeihen müssen; denn man kennt in Pommern keinen allgemeinen Ausdruck, der dem hochdeutschen »Märchen« entspräche, sondern giebt nur den einzelnen Abarten ihre besonderen Namen. Mit dem Namen Historjen oder Geschichten bezeichnet man die Märchen, in denen von Verwünschungen, erlösten Prinzessinnen, Drachen u.s.w. die Rede ist. Sind die Historjen sehr sentimental, so werden sie auch wohl genannt: »Wunderschöne Historjen, wo die Frauen weinen und die doch gar zu schön sind«. Zweitens unterscheidet man Kindergeschichten, wozu beispielsweise die bekannten Märchen von Schneewittchen, Dornröschen, vom Machandelboom, vom Fischer und seiner Frau der Grimmschen Sammlung gerechnet werden müssten. Ihre Erzählung übernehmen insgemein die Frauen. Der Märchenerzähler wehrt sie von sich ab mit der Bemerkung: »Ach, das sind ja Sachen, die hörte ich, als ich so (er macht die bezeichnende Handbewegung) klein war.« Aber auf Zureden erzählt er schliesslich doch, besonders wenn er von Kindern umlagert wird. – Die Tiermärchen werden unter dem Worte Fabelwesen begriffen. – Dann kennt man Räubergeschichten, Seemannsgeschichten, Geschichten aus der Zeit, da die Leute noch so dumm waren, dass sie katholisch waren, und unser Herrgott auf Erden ging, um den armen Menschenkindern zu helfen, Geschichten aus des alten Fritzen Zeit, Geschichten vom dummen Hans, vom starken Hans, vom starken Jochem oder eisernen Marten, vom Wolfs-, Löwen- oder Bärensohn. In die Reihe der Schwankmärchen werden wir eingeführt, wenn der Erzähler anhebt: »Nun wollen wir etwas Listiges hören!« Schon bedenklicher ist's, wenn er sagt: »Jetzt kommt etwas Drolliges.« Aber gar toll wird's, wenn er seiner Zunge freien Lauf lässt und mit den Zotenmärchen anhebt, welche auch wohl genannt werden: »Geschichten, wo die grossen Dirnen juchen und die Frauen mit dem Tüffel werfen, aber nicht hinausgehen und die Männer lachen.«
Aus diesen Benennungen ergiebt sich der Inhalt der Märchen von selbst. Es würde zu weit führen, darauf des näheren einzugehen; betrachten wir das Märchen im grossen und ganzen. Auf drei Punkte kommt es dabei an: ich unterscheide erstens den Kern des Märchens, zweitens die märchenhaften Züge und drittens die eingeflochtenen oder[12] angefügten Lieder. Der Kern des Märchens ist der einfache Gang der Erzählung ohne alles Beiwerk. Er ist in Pommern nicht anders, wie sonst wo in Deutschland; und es ist hier nicht der Ort, des näheren auf die Frage einzugehen, welche von den Märchenkernen spezifisch germanisch und welche durch Einflüsse irgend welcher Art, durch Schiffer und Handwerksburschen, durch fahrendes Volk und Zigeuner oder durch Soldaten, aus der Fremde überkommen und dann heimisch geworden sind, und ob nicht vielleicht ein grosser Teil derselben auf allgemein menschlichen Grundlagen beruht und sich deshalb überall in der Welt in ziemlich gleichmässiger Gestalt finden muss. Nur soviel sei hier erwähnt, dass Pommern auch reich ist an solchen Märchen, welche aus der Heldensage und dem Mythus entstanden sind.
Gehen wir zu den märchenhaften Zügen über. Darunter verstehe ich die Vorstellungen, welche die menschliche Phantasie in ihrem Hange zum Wunderbaren erzeugt und die unter gleichen Bedingungen ganz gleich bei den Deutschen wie bei den Chinesen, bei den Kaffern wie bei den Indianern sein müssen. Es liegt auf der Hand, dass einem durstigen, hungrigen Gemüt das vor ihm stehende Trinkgefäss, der gedeckte Tisch das Verlangen und die Sehnsucht nach einem Trunke, welcher niemals versiegt, nach einer Speise, welche niemals alle wird, erzeugen muss, und daraus ist dann der märchenhafte Zug von dem Glase-, Horne- oder Becher-Nimmerleer, von dem Tischlein, Serviettchen, Tüchlein-deck-dich entstanden. Ebenso ist's gegangen mit dem Knüppel aus dem Sack, dem Zauberschwert, der undurchdringlichen Rüstung, der unverwundbaren Haut, dem Universalheilmittel, dem Wasser des Lebens, dem Zauberspiegel, dem Heckethaler, dem Goldesel; ferner mit dem Riesenstarken, dem Däumling, dem federleichten Schneider, dem blitzschnellen Läufer, dem Hasenhüter, dem ewig Hungrigen oder Durstigen u.s.w. Je mehr ein Volk seine Liebe zum Märchen bewahrt hat, um so reicher werden sich auch bei ihm die märchenhaften Züge finden, und darum treffen wir dieselben in grosser Fülle in den pommerschen Märchen wieder.
Natürlich schreiten die märchenhaften Züge mit der Weltgeschichte fort. Die Erfindung der modernen Gewehre und Geschütze mit ihrer verherenden Feuerwirkung lässt das Zauberschwert in den heutigen Märchen mehr und mehr in den Hintergrund treten. Es stellt sich dafür das Gewehr und die Kanone ein, welche immer wieder von selbst geladen sind, sobald sie abgeschossen werden, also die höchste Potenz unserer jetzigen Mehrlader und der Mitrailleusen. – Es wird einleuchten, dass sich dadurch die Gestalt des Märchens im Laufe der Zeit verändern muss, um so mehr, als, meiner Beobachtung nach, allenthalben, wo Märchen erzählt werden, ganz im Gegensatz zu dem ängstlichen Festhalten an dem Märchenkerne, mit den märchenhaften Zügen ziemlich frei umgegangen wird. Aehnliche werden mit einander vertauscht oder, noch häufiger, an einander gereiht, manche ganz neu hinzugefügt, so dass schliesslich scheinbar[13] ein völlig neues Märchen entsteht, obwohl es seinem innersten Wesen nach nur als Variante eines andern zu betrachten ist. Der Beweis für die Richtigkeit meiner Behauptung liegt darin, dass überall die Kerne der Märchen die grösste Verwandtschaft zeigen, während die Art und Weise der Ausschmückung mit märchenhaften Zügen häufig schon in zwei an einander grenzenden Dorfschaften eine grundverschiedene ist.
Eine andere Bewandtnis hat es mit dem dritten Punkt, auf den wir bei der Betrachtung des Märchens unser Augenmerk richten müssen, dem eingeschalteten oder angefügten Liede. Bekannt sind aus den Märchensammlungen nur kleine Reime, welche sich innerhalb des Ganges der Erzählung finden. Ich erinnere, um ein Beispiel herauszugreifen, an die Verse in dem von Grimm aus Pommern in seine Sammlung übernommenen Märchen vom Fischer und seiner Frau:
»Manntje, Manntje, Timpe Te!
Buttje, Buttje in de See!
Myne Fru, de Ilsebill,
Will nich so, as ik wol will.«
Von diesen kleinen eingeschobenen Strophen, die immerhin auch ihr Interesse beanspruchen dürfen, wollen wir hier nicht reden; ich meine umfangreichere Lieder, welche in poetischer Form kurz den Gesamtinhalt oder grosse Teile des Märchens wiedergeben und, nachdem dasselbe vorgetragen ist, von dem Erzähler, oft in Gemeinschaft der Zuhörer, gesungen werden. Sie finden sich nur bei den sogenannten Historjen und den Räuber- und Seemannsgeschichten, also ernsteren, und wenn ich mich so ausdrücken darf, heldenhaften Stoffen. Zum grössten Teile sind sie heute dem Volksgedächtnis abhanden gekommen, die Erinnerung an sie hat sich jedoch noch überall lebendig erhalten, und sie werden und wurden nicht nur im Anschluss an Märchen, sondern auch im Anschluss an Sagen gesungen. So ist z.B. das Volksbuch von der heiligen Genovefa in schlichter Märchengestalt unter dem pommerschen Landvolk verbreitet. Wenn nun in einigen Gegenden der Erzähler die Historje beendet hat, so singen er und die Zuhörer das Lied von der Genovefa, welches kurz noch einmal die wesentlichen Punkte des Märchens vor Augen führt. Nachdem die Sage von dem Liebespaar, das sich auf Tod und Leben verschworen hatte, das heisst also die sogenannte Lenorensage, erzählt ward, wurde, wie allgemein berichtet wird, das Lied gesungen, dessen ich leider bis jetzt noch nicht habhaft werden konnte. – Hoffentlich bin ich in der Folgezeit glücklicher; denn es ist ständige Gewohnheit auf dem Lande bei beiden Geschlechten, vorzugsweise aber bei den Frauen, alle Lieder, die ihnen wohlgefallen, aufzuschreiben und sorgsam zu verwahren. Am Ende lässt sich das alte pommersche Lenorenlied dort noch auftreiben, wenn es nicht gelingen sollte, dasselbe aus mündlicher Quelle zu erfahren. Mit den eingeschalteten oder angefügten Liedern ist es also genau so bestellt, wie[14] mit den Mordthaten, welche von den Bänkelsängern verbreitet werden: erst die Erzählung in Prosa, dann das Gedicht.
In Nr. 32 dieser Sammlung ist das Lied in den Gang des Märchens verknüpft worden. Trotzdem wird es auch selbständig, d.h. losgelöst von dem Märchen, gesungen, und in diesem Falle wiederum erst dann, nachdem dieses in ungebundener Rede vorgetragen ist. Ich möchte glauben, dass diese Verbindung von ungebundener und gebundener Rede, vom Sagen und Singen, uralt ist und dass auch in solcher Weise die Heldensage und der Mythus ursprünglich wiedergegeben wurde. Nur so lässt sich begreifen, dass die knappen, kurzen Heldenlieder der Masse des Volkes, welche einer breiten, gemütlichen Darstellungsweise gewiss im Altertume nicht weniger, wie heutzutage, durchaus bedürftig war, so wohl gefielen und wahrhaft volkstümlich waren. Die Lieder, welche noch heute im Anschluss an die Historjen und Sagen in Pommern gesungen werden, ähneln in ihrer gedrungenen Kürze und in ihrer Unverständlichkeit ohne vorher gegangene Prosaerzählung ganz den alten Heldenliedern.
Man findet häufig die Ansicht vertreten, dass die Märchen vom Volke mit starrer Aengstlichkeit überliefert würden, so dass in Jahrhunderten kaum kleine Aenderungen darin eintreten könnten. So weit es sich um den Kern des Märchens handelt, hat das seine Richtigkeit; denn die Märchenkerne ändern sich wenig und sind sich zum Teil wirklich im Laufe von Jahrhunderten nachweisbar völlig gleich geblieben. Im übrigen ist das Märchen aber durchaus als etwas Lebendiges anzusehen und wächst als solches, verändert sich und ist fortbildungsfähig. Ich machte schon vorher auf die märchenhaften Züge aufmerksam, deren Verwendung seitens der Märchenerzähler eine verhältnismässig freie genannt werden darf. Dazu kommen nun noch einige andere Punkte, welche die Veränderlichkeit des Märchens bedingen.
In erster Reihe ist es die Eigenart des Erzählers. In unsern Märchensammlungen wird zwar, nach dem Vorgange der Gebrüder Grimm, immer betont, dass die Märchenerzähler genau bei der Erzählung bleiben und auf ihre Richtigkeit eifrig sind, dass sie niemals bei der Wiederholung etwas abändern und ein Versehen mitten in der Sache gleich selber bessern, und das ist auch richtig, soweit es sich um vollendete Märchenerzähler und um Kinder handelt, welch letztere sich solange vorerzählen lassen, bis sie wortgetreu auswendig können; aber ehe der Märchenerzähler bis zur Vollendung gediehen ist, wirkt bei ihm, wenn auch ganz absichtslos, seine Eigenart auf das Märchen ein. Ein Schuster pflegt alle bösen Menschen in seinen Märchen zu Schneidern zu machen; ein Frauenzimmer stempelt jedes böse Weib zu einer Stiefmutter um, daher auch in den Märchensammlungen die vielen bösen Stiefmütter, weil die Sammler fast durchweg Frauen zu ihren Quellen gehabt haben. Das treffendste Beispiel für das Einwirken der Eigenart des Erzählers auf seine Märchen fand[15] ich bei einem alten Knecht aus dem Ueckermündischen. Wochenlang hatte ich versucht, mir das Zutrauen des Mannes zu gewinnen; ich kannte schon seine ganzen Familiengeheimnisse, den Stand und die Geburtstage aller seiner schutzbefohlenen Rinder und Schweine, ihre guten und schlechten Seeleneigenschaften, aber mit seinem Märchenschatze rückte der Mann nicht heraus, obgleich ich von anderer Seite her wusste, dass derselbe beträchtlich war.
Endlich nahm er mich eines Abends beiseite und sprach zu mir in der missingschen Mundart, welche sich im Verkehr immer mehr geltend macht: »Junger Herr, wovor eschtimieren sie mir wohl?« – »Wofür soll ich Sie estimieren?« sagte ich einigermassen verlegen. »Na, doch wohl für einen roten Husaren?« fragte er dringend. – »Das will ich meinen,« versetzte ich rasch, »dafür habe ich Sie schon längst angesehen.« – »Davor habe ik Ihnen auch taxiert,« sprach er freudestrahlend, »und nun will ik Ihnen auch verzählen, wie dat gekommen ist: Meine beiden Brüder haben bei die rote Husaren gestanden. Ik hatte wat untern Strich, aber dat kann man einen halben Finger gewesen sin. Da haben sie mir nun in Garz mang den Train gestochen. Bin ik nu aber nich von Rechts wegen ein roter Husar?« – »Schultz,« sagte ich, »habe ich Sie schon immer so estimiert, nun estimier' ich Sie von Gotts und Rechts wegen für einen roten Husaren und lasse mich darauf hängen.« Damit war das Eis gebrochen, ich war sein Freund geworden und liess mir wochenlang Abend für Abend erzählen, was er wusste. Aber alle Soldaten, welche in seinen Märchen vorkamen und etwas taugten, waren rote Husaren, und alle Prinzen und Könige trugen rote Husarenuniform.
Noch stärker ist die Umwandlung, welche das Märchen dadurch erfährt, dass es ganz dem Ideenkreis des Erzählers angepasst wird. Fremde Züge kann das Volk nicht vertragen, weil es dieselben nicht versteht; und so sehr es sich scheut, den Gang der Erzählung anzutasten, das Beiwerk wird seines fremden Gewandes beraubt und durchaus volkstümlich gekleidet. Ich bin in der Lage, dies an einem in jüngster Zeit im Kreise Randow unter das Volk gebrachten Märchen nachzuweisen. Einem Dienstmädchen war von ihrer Herrschaft ein Auszug der Märchen von Tausend und eine Nacht zum Lesen gegeben worden. Die bekannte Geschichte von Aladin mit der Wunderlampe sagte ihr am meisten zu, sie las sie solange, bis sie dieselbe auswendig konnte, und gab sie dann gelegentlich eines Besuches in ihrem Heimatsdorf zum besten. Ein Märchenerzähler lernte das Märchen von ihr und erzählte es dann, nachdem ungefähr ein Menschenalter über dem Lernen vergangen war, vor Jahresfrist wieder, vor allen andern Märchen, die er sonst im Gedächtnis hatte, weil es aus einem gedruckten Buche stamme und darum schöner sei, wie alle andern Historjen, die er sonst wisse. Zug um Zug stimmte mit dem Originale, nur war dem guten Manne, er wusste wohl selbst nicht wie und warum, aus dem schmutzigen Aladin der rothaarige, ohne Gottesfurcht aufgewachsene[16] Dummhans geworden, der noch nicht lesen und schreiben und nicht einmal das Vaterunser beten kann. Den Garten, welchen die orientalische Phantasie mit Obstbäumen bestanden schildert, welche Perlen und Edelgestein statt der Früchte tragen, machte er zu dem volkstümlichen Fehnusgarten; das Rochei jedoch, das Ei des Vogels Roch, welches in dem Originale eine so grosse Rolle spielt und welches Aladin auf den Rat des Zauberers vom Geiste der Lampe als Kuppelschluss in seinem Schlosse einfügen lassen soll, behielt er bei. Es schien ihm zu wichtig für die Erzählung, als dass er daran zu tasten wagte, und so erzählte er denn, der rothaarige Dummhans habe zuguterletzt von dem Geiste gefordert, er solle ihm den König Reckei bringen und ihn am Schwibbogen aufhängen. Als ich ihm erklärte, was das heissen solle, einen solchen Namen gäbe es gar nicht, antwortete er gelassen: »Wie wollen Sie ihn denn genannt wissen? Sie sind ja klüger, wie ich, geben Sie ihm doch einen Namen, der besser klingt. König Reckei heisst er, und so werde ich ihn nennen mein Leben lang.«
In noch höherem Masse, wie bei diesem jungen Eindringling aus dem fernen Orient, ist natürlich in den altheimischen Märchen das Gewand ein echt pommersches. Dieselben Vorstellungen kehren wieder, wie in den Sagen, und da diese durchaus germanischen Ursprungs sind, so sind auch die Märchen ein neuer Beweis für das unverfälschte Germanentum der Pommern, zumal der mittleren und westlichen Hinterpommern, und ferner für die ethnologische, und mythologische Bedeutung, welche jede Märchensammlung, die aus echt volkstümlichen Quellen geschöpft ist, für sich in Anspruch nehmen darf.
Endlich trägt sehr viel zur Veränderlichkeit des Märchens bei, die Sucht zu vervielfältigen und zu verbinden. Hat der Held eine Gefahr bestanden, so ruht der dichtende Volksgeist nicht eher, bis er aus der einen Gefahr drei gemacht hat, und diese werden wieder, je nach dem, zu sechs und zu neun verdoppelt und verdreifacht. Aus einer verwünschten Prinzessin werden drei, ebenso aus dem bösen Drachen, oder er bekommt statt des einen Kopfes drei, sechs, neun oder gar zwölf Häupter. Aus einem Wunschding werden drei, und so weiter. – Dasselbe ist es mit der Sucht zu verbinden. Märchen, welche ähnliche Stoffe behandeln, sucht der dichtende Volksgeist zu kombinieren: aus den vielen kleinen Märchen vom dummen Hans erhalten wir wenige grosse, am Ende wohl gar eine umfangreiche Dummhansiade. Ebenso geht es dem starken Hans, dem Däumling und vielen anderen Stoffen.
Das sind jedoch nicht spezifisch pommersche Eigentümlichkeiten. Die Sucht der Vervielfältigung finden wir beispielsweise schon in dem Liede vom hörnernen Siegfried, und der Sucht der Verbindung verwandter Stoffe verdanken die Faust- und die Rübezalsage, das Buch von den Schildbürgern, Eulenspiegel u.s.w. ihr Dasein. Ueberhaupt verwahre ich mich vor dem Anschein, als ob, was ich hier über das pommersche Märchen entwickelt habe, darum auch nur für die pommerschen[17] Märchen von Gültigkeit wäre. Genau wie die pommerschen Märchen sind, wenn auch vielleicht nicht überall ganz so altertümlich und reichhaltig, die Märchen der übrigen deutschen Stämme. Es ist Schuld der Forscher, wenn sie über die Märchenarmut klagen. Wenn z.B. Müllenhoff vor vierzig Jahren von den schleswigholsteinschen Märchen sagt: »So also ist der Baum verdorret, der so lange grünte. Seine letzten Reiser und Blätter waren wir für unsern Teil bemüht zu sammeln,« so entspricht das, wie ich aus eigener Anschauung versichern kann, selbst heute nicht der Wirklichkeit. Er ist eben nicht genug in das Volk gedrungen; das beweist schon, dass er das meiste aus dritter Hand von Kindermund sammelte. Zu der eigentlichen Quelle ist er gar nicht durchgedrungen. Und wie ihm, ist es vielen andern Forschern ergangen.
Es erübrigt, einige Worte über die vorliegende Sammlung selbst hinzuzufügen. Die einzelnen Stücke sind mit geringen Ausnahmen, die Nummern dieses ersten Bandes ausschliesslich, direkt dem Munde des Volkes entnommen worden. Andere Quellen fliessen für Pommern und Rügen überaus spärlich. E.M. Arndts Märchen und Jugenderinnerungen6 bieten, so verlockend der Titel auch klingt, für unsere Zwecke nichts. Die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm bringen aus Vorpommern zwei Märchen: das von dem Fischer und seiner Frau und das Märchen vom Machandelboom, welche von Ph. D. Runge in der Mundart nacherzählt sind. Ein drittes (hinter-) pommersches Märchen, das vom Våte Haenk, hat Firmenich in den Völkerstimmen7 zum Abdruck gebracht. Sonst kommen nur noch die 13 Märchen aus dem östlichen Hinterpommern in Betracht, welche den Schluss der O. Knoop'schen Sammlung8 bilden.
Ausser diesen wenigen Stücken, deren Inhalt für die Anmerkungen und Varianten Verwendung finden wird und zum Teil schon in dem vorliegenden ersten Bande gefunden hat, konnte nur der Volksmund als Quelle benutzt werden. Abweichend von anderen Sammlern habe ich mich dabei fast ausschliesslich auf mich selbst verlassen9. Der Forscher wird mir das danken, zumal dadurch die Reichhaltigkeit der Sammlung in keiner Weise beeinträchtigt ist. Freilich, um diese Reichhaltigkeit zu ermöglichen, durfte kein Opfer an Zeit und Geld gespart werden. Meine Mittel allein hätten mir das nicht erlaubt; zum Glück für die Sache fand ich jedoch festen Rückhalt und jede Unterstützung in dem Altmeister deutscher ethnologischer und anthropologischer[18] Forschung, Rudolf Virchow. Ihm habe ich es in erster Linie zu danken, dass sich Seine Excellenz der Herr Kultusminister Dr. von Gossler der Sache auf das wärmste annahm und zur erfolgreichen Ausbeute Staatsmittel zur Verfügung stellte. Meinen Dank glaubte ich dem grossen Landsmann nicht besser ausdrücken zu können, als indem ich die Sammlung, das Beste, was ich zu bieten vermag, seiner hochverehrten Gemahlin zueignete, dass sie ihr ein Gruss sei aus der Heimat ihres Gatten.
Angelegt ist die Sammlung so, dass die beiden ersten Bände die Märchentexte, soweit das bei einer Märchensammlung angeht, sachlich geordnet, und, im Anhang, den Quellennachweis und die Varianten bringen. Der dritte Band soll ausser einem Nachtrag, wenn der Platz es erlaubt, eine genaue Zusammenstellung der bis jetzt erschienenen Märchenlitteratur, sowie eine Abhandlung über das Märchen enthalten.
Eine Anzahl von Märchen (in diesem Bande Nr. 5, 41, 42 u. 53) ist in der Mundart erzählt. Die Schreibart ist phonetisch; doch sind mit Rücksicht darauf, dass die Sammlung in erster Linie volkskundlichen, nicht sprachlichen Interessen dienen soll, der leichteren Lesbarkeit halber nach Möglichkeit Zeichen vermieden, welche von den in der hochdeutschen Schriftsprache bräuchlichen abweichen. Die kurzen Vokale sind wiedergegeben mit den Lettern: a, ä, e, i, o, ö, u, ü, die entsprechenden Längen mit: aa, ae, ee, y (nur in Nr. 5 durch ein Versehen des Setzers mit ij), oo, oe, uu, ue. Die Zeichen für die Zwischenlaute von aa und oo, von ae und oe und für das verdumpfte au sind: å, åe und åu.
Schliesslich sei noch der Verlagsbuchhandlung für die vortreffliche Ausstattung und dem Verein für niederdeutsche Sprachforschung für die Breitwilligkeit, mit welcher er den unverkürzten Abdruck der Märchen in seinen Publikationen gestattet hat, der gebührende Dank ausgesprochen.
Berlin, im Herbst 1890.
Dr. Ulrich Jahn.
1 Volkssagen aus Pommern und Rügen. Gesammelt und herausgegeben von Dr. Ulrich Jahn. Stettin 1886. Dannenberg. XXVIII u. 541 S; 2. Aufl. Berlin 1890. Mayer u. Müller XXVIII u. 566 S.
2 Hexenwesen und Zauberei in Pommern. Von Ulrich Jahn. Stettin 1886. Komm.-Verlag von Koebner in Breslau. 196 S. Separatabdruck aus »Baltische Studien« Jahrg. XXXVI.
3 Die von mir erworbenen pommerschen Sammlungen sind im Museum aufgestellt und dem Publikum zur Besichtigung zugänglich gemacht.
4 Schwänke und Schnurren aus Bauern Mund. Von Ulrich Jahn. Mit einem Titelbild von Prof. A. Kretschmer. Berlin 1890. Mayer u. Müller. 140 S.
5 Ich schliesse mich im folgenden an meinen Vortrag »Das Volksmärchen in Pommern«, gehalten auf der dreizehnten Jahresversammlung des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung in Stettin am 31. Mai 1887. Abgedruckt im Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung. Jahrgang 1886. Band XII. S. 151-161.
6 Märchen und Jugenderinnerungen von E.M. Arndt. 2 Teile Berlin 1842 u. 43. Reimer: 1. Teil. 2. Ausgabe. Mit 6 Kupfern. VI u. 410 S.; 2. Teil. Mit 6 Kupfern. XII u. 372 S.
7 Joh. Matth. Firmenich, Germaniens Völkerstimmen. Sammlung der deutschen Mundarten in Dichtungen, Sagen, Märchen etc. Berlin. Schlesinger. Band I S. 91.
8 O. Knoop, Volkssagen, Erzählungen, Aberglauben, Gebräuche und Märchen aus dem östlichen Hinterpommern. Posen 1885. Jolowicz. XXX u. 240 S.
9 Nicht von mir persönlich gesammelt sind Nr. 5 und Nr. 60. Siehe darüber die Anm.[19]
Ausgewählte Ausgaben von
Volksmärchen aus Pommern und Rügen
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