XI

[200] Eines Morgens im Frühling fuhren sie in ihrem leichten Wäglein in die Weingärten hinaus.

Die Luft war balsamisch, die Wiesen funkelten im Brillantschmuck des Taues. Kincs wieherte vor Vergnügen. Hendrik öffnete sich den Rock auf der Brust. Im wolkenlosen Blau des Himmels schossen geschäftige Vögel hin und her und sangen, so laut sie konnten.

Hendrik sah mit glänzenden Augen umher. Am liebsten wäre er aus dem Wagen gesprungen und zu Fuß gelaufen. Aber das ging nicht, denn sie hatten es eilig. Sie wollten am Abend wieder zurück sein.

Da ertönte ein schwerer Seufzer. Hendrik blickte auf Emmerich. Das farblose Gesicht trübselig geneigt, ohne dem schönen Morgen einen Blick zu schenken, lag er in seinen Lederkissen.

Hendrik hatte noch nie so deutlich den Verfall wahrgenommen, der mit seinem Freunde[200] vorging. Von der Nasenwurzel herab zog sich eine breite Furche bis zu den Mundwinkeln mit ihrem ironisch bitteren Zug. Das Fleisch der Wangen war faltig und schlaff, die Schläfen waren eingesunken. Das früher hübsche Haar klebte in Büscheln beisammen, straff und farblos wie bei Schwerkranken.

»Weshalb siehst du mich so an?« fragte Emmerich den Freund mit lauerndem Blick. Hendrik hatte auch diesen Ausdruck noch nie an ihm wahrgenommen. Er erschrak darüber. Tralgoth bemerkte es und deutete es auf seine Weise.

»Du hast wohl geglaubt, daß ich nicht sehe, wie du mich fixierst. O, ich sehe alles, mein Lieber, sei versichert!«

»Da wärst du ja zu beglückwünschen,« versetzte Hendrik ruhig, »denn du würdest nur Gutes und Rechtes sehen!«

»O ja, natürlich, ich bin auch zu beglückwünschen.«

Der Morgen war so schön. Hendrik fühlte sich frei von allen kleinlichen Regungen. Er hatte es sogar in diesem Augenblick vergessen, daß der Mann da neben ihm ihn des Liebsten beraubt hatte. Er sagte mit gutmütigem Ton: »Wenn ich nur die leiseste Ahnung hätte, was du eigentlich hast. Deine finanziellen Verhältnisse stehen gut wie nie, zu Hause hast du ein Weib, ein Kind, die jeden glücklich machen würden.«[201]

»Erzähl' weiter,« bemerkte Emmerich ironisch. »Vielleicht entdeckst du, daß mein Haus ein trauliches Nest ist, daß die wärmste Zärtlichkeit mich schon vorm Thor erwartet –«

»Das ist deine eigene Veranstaltung. Du hast dir die Menschen so erzogen, wie sie nun sind.«

»Ich erzogen? Hahaha!«

»Du gehst mit verbittertem, trübem Gesicht umher; kann da vielleicht ein froher Ton aufkommen?«

»Unsinn! Würde ich ein solches Gesicht besitzen, wenn es – anders um mich wäre?«

»Dein Kind –«

»Ist das Kind meiner Frau.«

»Was hast du ihr vorzuwerfen?«

»Sie ist ein Eisklotz.«

»Neben dir geworden.«

»O nein, bester Freund, sie war's schon von Anfang an.«

Hendriks Brauen runzelten sich. »Wohl, sie war's von Anfang an. Hättest du ihr Eis durch deine Wärme zum Schmelzen gebracht.«

»Bei gewissen Naturen geht das nicht.«

Hendrik lachte auf. »Eine Stunde lang ein Weib im Arm, und es ist wie ein Kind.«

»Ja, eine gewöhnliche Frau, aber die –«

»Gewöhnlich ist deine Frau allerdings nicht.«

»Nicht wahr, nein.« Tralgoth sah ihn durchbohrend an. »Also du siehst ein, auch du hättest die nicht zum Tauen gebracht.«[202]

»Ich? Gott, red' kein dummes Zeug, was geht mich deine Frau an?«

»Nun, ich meinte nur. Wenn du dir eine ins Haus genommen hättest, die immer still und gedrückt ein her ging, bei deinen Liebkosungen wie ein Stein bliebe, was thätest du da?«

»Wenn ich sie liebte?« entgegnete Hendrik. »Vor allem suchte ich den Grund ihrer Kälte zu entdecken. Wäre mir das gelungen, dann jagte ich sie entweder aus dem Haus, oder ich gewänne sie mir ganz.«

»Ein mühseliges Stück Arbeit, was du da schilderst.« Emmerich rieb sich die Hände. »Ich habe kein Talent zum Komödiespielen.«

»Du hast überhaupt kein Talent zum Leben.«

»Nicht wahr?« Emmerichs bohrender Blick heftete sich von neuem auf den Freund. »Zum Leben überhaupt. Deshalb wär's besser, ich – na! Aber ich habe Augen, ich sehe alles. Merk' dir's!«

»Was meinst du?« fragte Hendrik verständnislos.

»Nun, ich meine nur – ich –«

»Ich versteh' dich nicht, ich glaube, du hast nicht ausgeschlafen.«

»Nicht ausgeschlafen? Wie kommst du darauf? Du scheinst dich – du, ich kann dir sagen, ich schlafe nie. Ich höre alles, was um mich vorgeht.«

»Aber weshalb denn, um Gotteswillen, und [203] was hörst du denn?« Hendrik hatte sich ganz zu ihm gewendet und sah ihm voll ins Gesicht.

»Was ich höre?« Er sah die stolzen, ehrlichen Augen des Freundes auf sich gerichtet und vergaß einen Augenblick seinen Verdacht gegen ihn. »Was ich höre? Nun, ich höre weniger, aber ich fühle etwas. Ich weiß nicht, ist's im Gemäuer, in der Luft, im Zimmer oder draußen. Es ist etwas Drohendes, das sich nach mir ausstreckt. Es ist ein Feind, der mich beschleicht. Es ist gleich nach meiner Eltern Hingang gekommen. Vielleicht ist's ein Rest Tod, der zurückgeblieben ist. Es geht kühl über meine Nackenhaare hin, auch jetzt – jetzt mitten in der Sonne. Es sitzt zwischen uns beiden im Wagen.«

Hendrik war totenblaß geworden und brachte das Roß mit jähem Ruck zum Stillstehen.

»Mensch, hör' auf mit deiner fürchterlichen Phantasie! Du rufst das Verhängnis, du beschwörst es herab. Du weckst den Tod auf, dadurch, daß du immerfort an ihn denkst.«

Emmerich umklammerte mit seinen kranken knöchernen Händen Hendriks Rechte. »Hast du nicht selbst immer gesagt, was einem bestimmt ist, kommt doch?«

»Dann laß es kommen, aber vergälle dir nicht das ganze Leben durch die Vorstellung des Schlusses.«

»Du giebst es also zu?« stammelte Tralgoth.

»Was denn? Du bist ja wahnsinnig.« Hendrik[204] riß die Zügel an, Kincs bäumte sich hoch auf und raste davon. – Draußen angekommen, schritten sie zwischen den jungen, keimenden Reben hin. Die Sonne brannte heiß.

Hendrik schauderte es. »Geben Sie mir ein Glas Wein,« sagte er zu dem sie begleitenden Aufseher.

»Du frierst?« fragte Tralgoth verwundert.

»Ein Wunder, neben dir nicht zu frieren.«

»Du auch?«

Hendrik fühlte einen Stich durch sein Herz gehen. Du auch? Ja ich, ich besonders, murmelte er zwischen den Zähnen. So viele Opfer, und alle vergebens! Alle vergebens! Ein kochendes Wutgefühl bemächtigte sich seiner. Vor seinen Augen stiegen rötliche Nebel auf. Verdammter, Verdammter, der du durchaus verdammt sein willst.

»Was sagst du? Was krallst du deine Nägel in meinen Rock?«

»Ah, nichts.« Hendrik that einige hastige Schritte zur Seite. Sein Kopf zwängte sich zwischen die hochgezogenen Schultern. Bestie! Bestie! Seine Furcht! Hier sitzt sie nun mitten drinnen in meiner Brust und erweckt alte, vergessene Ahnungen ...


Kyrilla, die bisher ganz in sich selbst Eingemauerte, Stille, Verborgene, verspürte plötzlich[205] Lust, aus ihrer Zurückgezogenheit herauszutreten und mit Menschen zu verkehren, denen sie von ihrer inneren Wärme mitteilen konnte. Mit ihren von einem Rosenhauch überschimmerten Wangen ging sie in die Stadt hinein und suchte Freundinnen auf, mit denen sie seit den Schultagen nicht mehr verkehrt hatte. Sie kamen ihr erstaunt, verwundert, vorsichtig entgegen. Sie, in der Eintönigkeit ihres meist leid- und glücklosen Lebens behäbig geworden, verstanden diese schlanke, so eigen lächelnde Frau nicht. Sie klopfte vergebens an ihre Teilnahme an. Und so kehrte sie bald wieder in die schützende Einsamkeit ihres Hauses zurück.

Jetzt in der Sommerszeit, wo die Männer meist draußen waren, hatte sie viel freie Stunden. Manchmal saß sie mit Bela in der Laube und brachte ihm die Kunst des Alphabets bei; manchmal lenkte sie ihre Schritte hinaus ins Freie. Am liebsten ging sie nach dem Steinbruch, an dem der Weg in die Weingärten vorbeiführte. Hier saß sie oft lange und blickte hinab in die Tiefe des Kessels, in der die Arbeiter auf langen Leitern herumhantierten. Vereinzelte Windstöße trugen ihr die Stimmen der Leute zu. Sonst war es ganz still um sie her. Der weite Himmel wölbte sich über die mächtige Ebene, aus der eine Gruppe Bäume hervortrat. Dort lag der Tralgothhof. Und sie glaubte die Gestalt eines Mannes zu erblicken, der Segen ausstreuend[206] dort umherging. Hatte es wirklich einen Augenblick gegeben, da sie ihn gefürchtet hatte? Sie errötete über sich selbst. Er stand hoch über ihr. Wie hatte er sie beruhigt! Heilig sollte sie ihm bleiben. Heilig sich selbst.

Oft stützte sie dort im Schatten des Wäldchens den Kopf in die Hände und grübelte nach. Und ein unendlicher Friede teilte sich ihr mit. Zwischen ihr und Hendrik hatte sich schon damals, als sie einander in ihrer Dürftigkeit begegnet waren, ein geheimes Verstehen entwickelt. Wenn sie in glücklichen Verhältnissen gewesen wären, würden sie wahrscheinlich Mann und Frau geworden sein. So wurde er ihr mehr. Sie lächelte still vor sich hin. Sie empfand, welches Glück darin lag, einen Menschen zu besitzen, der einen emporzuziehen vermochte. Sie wußte wohl, welch schlichtes, einfältiges Menschenkind sie war. Die paar Bücher, die ihr der Pfarrer geliehen, bildeten ihren ganzen Wissensschatz. Aber sie fühlte auch, daß noch manches Gute, Ungehobene in ihr lag, von dem sie keine klare Vorstellung hatte. Wenn Bela älter sein wird! Die ganze Zärtlichkeit ihres unterdrückten Herzens wird sie dann auf ihn ausgießen, ihm alles mitteilen, was die langen Jahre des Schweigens, der Einsamkeit in ihr aufgespeichert haben.

Er wird sie sicher sehr liebgewinnen, wenn er sie einmal versteht. Schon jetzt, mit erwachender Intelligenz, schloß er sich inniger an[207] sie an. Wenn Hendrik nicht so ganz sein Herz gefangen hätte, besäße sie ihn mehr. Die leidenschaftliche Liebe des Knaben zu ihm ließ sie oft lange nachdenken. War es mehr als der naive Enthusiasmus eines Kindes für einen Erwachsenen? Wieso? Weshalb liebte er seinen Vater nicht? Allerdings, die bitter-ironische Art Emmerichs war wenig dazu angethan, ihm eine Kinderseele zu gewinnen. Sogar seine Scherze hatten einen herben Beigeschmack. Seine Launenhaftigkeit, sein unstätes, unruhiges Wesen machten das Kind ungeduldig und ihm gegenüber ohne Empfindung. Hendrik blieb sich immer gleich. Er hatte viel Ruhe an sich. Er besaß etwas Selbstbewußtes, Herrisches, das gerade auf Kinder großen Zauber ausübt. Zudem war er schön. Bei diesem Punkt ihrer Betrachtung angekommen, ging Kyrilla gewöhnlich auf anderes über. In ihrer Unschuld fand sie es unrecht, einen andern Mann als den eigenen schön zu finden.[208]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 200-209.
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