XII

[209] Ausgangs Sommer, als die Hauptarbeiten gethan waren, entbrannte ein heftiger Meinungsstreit zwischen ihr und Tralgoth.

Emmerich vermochte es nicht mehr anzusehen, wie innig sich der Knabe an Hendrik anschloß. Er hatte nichts unversucht gelassen, sein Herz zu gewinnen, aber seine Mittel hatten sich als zu schwach erwiesen. Da Bela überdies im schulpflichtigen Alter stand, entschied sich Tralgoth dafür, ihn in die Stadt in eine Erziehungsanstalt zu geben. Kyrilla bat ihn, von seinem Vorhaben abzustehen. Er würde ihnen durch die Entfernung nur noch entfremdeter. Er blieb kalt und fest auf seinem Vorsatz bestehen. Beide wandten sich nun an Hendrik um seine Meinung. Er gab dem Vater recht. Sie begriff ihn nicht und grämte sich heimlich.

Man begann an eine kleine Ausstattung zu gehen, die das Pensionat für den Jungen verlangte. Als Bela davon hörte, gab es heftige[209] Scenen. Er raufte sich das Haar aus, warf sich auf die Erde und verfiel in Weinkrämpfe.

Kyrilla vermochte ihn nicht zu beruhigen. Sprach sie ihm doch gegen ihre eigene Überzeugung Trost zu.

Sie wandte sich an Hendrik. In ihrer eigenen schüchternen Weise bat sie ihn, da er doch dafür stimme, der Junge solle fortkommen, ihm zuzusprechen und ihn gefügig zu machen.

Hendrik sah sie traurig an.

»Ich erscheine Ihnen wohl hart. Aber ich handle in Ihrem Interesse.«

Eines Nachmittags nahm er Bela in seine Stube mit hinauf. Sie ließen sich nieder. Hendrik zündete sich eine Pfeife an und begann langsam: »Also, mein kleiner Mann, jetzt heißt es zeigen, daß du Hendrik Ösz' Freund bist. Sieh, ich habe noch niemals das gethan, was ich hätte thun mögen, immer das, was ich thun sollte. Mach' du es auch einmal so. Folg' deinem Vater und denk' dabei: So hätte Hendrik Ösz auch gehandelt. Geh' gutwillig zu Doktor Blankö hinüber. Glaub' mir, so eine Pensionsanstalt ist viel weniger gefährlich, als sie aussieht. Man verbringt doch die meisten Stunden in der Schule, das müßtest du auch, wenn du zu Hause wohntest. Denn du beginnst allmählich ein großer Junge zu werden.«

Belas Gesicht hatte sich immer mehr verlängert. Er begann unruhig auf dem Stuhl[210] hin- und her zu rutschen. Hendrik blickte ihn lächelnd an. »Sei klug, Bela, in den Herbstferien bekommst du einen Pony, dann reiten wir beide in die Weinberge hinaus.«

»Bis dahin sind's noch viele Monate,« bemerkte das Kind kläglich.

»Ach was, die werden sehr schnell vergehen. Du wirst Knaben deines Alters kennen lernen –«

»Ich brauch' nicht.«

»Du wirst lernen, deiner Mutter Briefe zu schreiben. Sonntags besuchen wir dich, dann –«

»Ich will aber nicht.« Er begann sich mit den Fäusten die Augen zu reiben, aus denen große Tropfen drangen.

Hendrik legte seinen Arm um ihn.

»Bela, sei doch klug! Du willst ja mein kleiner Freund sein. Wenn du so feig bist und vor einer kurzen Trennung von Hause schon zurückschreckst, wofür, als für einen dummen kleinen Jungen soll ich dich dann halten. Pfui.« Er spie aus. »Immer von der Liska sich die Strümpfe anziehen lassen, ein Mädchen darf so etwas, aber für einen Buben ist's eine Schande.«

Auf Belas Wangen erschien ein feines Rot.

»Ihr könnt die Liska fortschicken, ich werde schon allein mit den Strümpfen fertig.«

»Weshalb sagst du nicht: ihr könnt mich zu Blankö schicken, mit dem Lernen und den paar Buben dort werde ich schon fertig! Das wäre ein Wort.«[211]

»Ich mag nicht den ganzen Tag in der Stube sitzen.«

»Du wirst's aber, ich will's.« Hendriks Augen begannen zu blitzen. Er sah ein, hier ging's nicht in Güte. Der Junge hatte einen harten Kopf. »Wenn du dich nicht schämst, ich schäme mich für dich. Du wirst also gutwillig hingehen.« Er legte die Hände auf Belas Schultern. »Ich will's, ich verlang's. Und wenn du vorher noch einmal heulst, verachte ich dich.«

Bela sah ihm mit zuckenden Lippen in das schöne, stolze Gesicht. »Will's doch nicht,« bettelte er und ließ seinen Kopf auf Hendriks Schulter fallen.

»Ja, ich will es, ich befehl' es dir.«

Bela stampfte wütend mit dem Fuß auf, steckte die Faust in den Mund und rannte zur Thür hinaus. Hendrik trat ans Fenster und lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Nun würde er gehen, sein kleiner junger Freund. Nun, ja, das wußte er gewiß. Und das Haus würde still und ernst werden. Und die Sehnsucht nach Liebe, die zum Teil jetzt in der Zärtlichkeit zu diesem Kinde ihre Befriedigung gefunden, würde in ihm von neuem ihre Arme ausstrecken. Er warf den Kopf in den Nacken. Er würde arbeiten, arbeiten, arbeiten. Auch körperlich. Er würde den Knechten helfen, um sich zu ermüden. Wenn er dann halbtot vor Mattigkeit abends ins Bett sank, würde keiner der quälenden, sehnenden Gedanken bei ihm anklopfen. –[212]

Abends bei Tische sagte Tralgoth: »Na, du hast ja den Jungen gehörig bearbeitet. Er hat trotzig erklärt, er wolle so schnell als möglich ins Institut. Er thut's wohl dir zu Liebe.«

»Und wenn,« warf Hendrik hin, »Hauptsache muß doch wohl für dich sein, daß du deinen Zweck erreicht hast.«

»Na, die Hauptsache wäre wohl etwas anderes, aber –«

Das Weinglas zerbarst in Hendriks Hand.

»Haben Sie sich verletzt?« rief Kyrilla.

»Nein. Ich habe dein Tischtuch mit Wein begossen,« wandte er sich an Emmerich, »wird dich das eine schlaflose Nacht kosten?«

Die beiden Männer blickten einander in die Augen. Zum erstenmal sprach etwas Feindseliges aus ihnen. Kyrilla hob die Glassplitter auf und entfernte sich. Sie erschien nicht wieder. Tralgoth trommelte ungeduldig auf den Tisch. Er wollte ironisch lächeln, es ging aber nicht recht. Schließlich sagte er leichthin: »Was hast du gegen mich? Weil ich das Kind fortgeben will? Eine Menge Väter in unserer Umgebung thun ihre Buben in die Anstalt.«

»O, das ist's nicht, das ist's nicht,« entgegnete Hendrik finster. »Es ist die Erkenntnis, daß alles vergebens ist.«

»Was denn?«

»Alles, was man für dich thut. Was andern[213] Medizin ist, wirkt wie Gift auf dich. Was andern Freude bereitet, schafft dir Ärger.«

»Soll ich mich freuen, wenn ich mein Kind fortgeben muß?«

»Weshalb giebst du es fort?«

»Weil – weil ich sehe, wie fremder Einfluß sich zu sehr seiner bemächtigt.«

»Herr Gott! Fremder Einfluß! Ist seine Mutter etwa eine Fremde?«

»Für mich, ja.«

Hendrik kniff die Lippen ein und erhob sich. Er hielt es nicht aus, er mußte hinaus. Emmerich folgte ängstlich seiner Bewegung.

»Weshalb gehst du? Ich habe doch gegen dich nichts gesagt, obgleich es mir, ehrlich gestanden, nicht recht ist, daß du den Jungen so ganz für dich in Beschlag nimmst. Vater bin schließlich ich, und ich habe Anspruch auf seinen Gehorsam, nicht du.«

»Weißt du, auf was ich Anspruch habe?« Hendrik stand hochaufgerichtet in der Mitte des Zimmers. »Daß ich endlich dem Haus und dir den Rücken kehre. Darauf hab' ich schon längst Anspruch und –«

Tralgoth trat hinter dem Tisch hervor und legte seine Hand auf Hendriks Arm.

»Red' nicht weiter, du redest ja Unsinn. Wer hat dich denn gebeten, zu mir zu kommen? Wer ist dir denn nachgegangen? Wem solltest du denn das Leben wieder lebenswert machen?«[214]

»Ah!« Hendrik fuhr sich mit beiden Händen nach der Stirn und schritt hinaus.

»Ob er – fortgeht,« dachte Tralgoth, einen Augenblick lauschend. »Nein, er wird nicht fortgehen. Er ist nur hinausgegangen, um sich abzukühlen. Er hat heißes Blut, und ich habe ihn geärgert. Ich hasse ihn, ja, ich hasse ihn, längst schon hasse ich ihn, aber ich bedarf seiner. Wenn er mich verläßt, muß ich zu Grund gehen. Ersticken.«

Er sank ächzend auf einen Stuhl. Dann raffte er sich auf und eilte die Treppe empor, ganz hinauf unters Dach. Hendrik war nicht in seiner Stube. Emmerich lehnte sich zum Fenster hinaus und erwartete ihn.[215]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 209-216.
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