VIII

[169] Am Abend brannten etliche Kerzen mehr als gewöhnlich in der Wohnstube unten. Der Tisch war mit einem frischen Linnen bedeckt. Kathinka trug das Beste auf, was sie in Küche und Keller hatte auftreiben können.

»Weshalb alle diese Umstände?« fragte Hendrik.

»Nur heute,« meinte der Hausherr; »morgen betrachten wir dich schon als einen der unsern. Heute bist du noch Gast. Kyrilla, siehst du nicht, daß Hendrik keinen Bissen Brot hat. Mach' doch die Augen auf.«

»Entschuldigen Sie!« stammelte sie verlegen und reichte ihm den Brotkorb hin.

Er wehrte ab. »Ich danke Ihnen!«

Emmerich lachte. »Ihr werdet euch doch nicht ›Sie‹ sagen, das wäre ja gar zu dumm. Wenn man so befreundet ist! Gesundheit! Auf gute Kameradschaft!« Er trank Hendrik zu. Dieser strich sich heftig über den Schnurrbart und sah auf Kyrillas gesenktes Haupt.[169]

»Du wirst mir's nicht übel nehmen, aber zu einer Frau sage ich nicht du.«

»So? Das ist seltsam! Aber wenn's dein Brauch ist. Du sollst alles thun dürfen, was dein Brauch ist. Kein Zwang, kein Zwang!«

»Ist oben alles in Ordnung?« fragte Kyrilla, zum erstenmale heute Abend das Wort an ihn richtend.

»Alles,« antwortete er ruhig. »Es ist ganz heimlich, bloß die eine der Fensterscheiben ist zerbrochen. Vielleicht kann der Glaser einmal kommen.«

»Das hab' ich garnicht wahrgenommen,« bemerkte Kyrilla.

»Ja, du nimmst manches nicht wahr.«

»Das Fenster stand immer offen.«

»Dumm genug. Ich kann vor dem Pfeifen und Heulen des Windes kaum schlafen. Das kommt von der Zugluft.«

»Ich ließ es absichtlich offen, weil du doch immer von dem muffigen Geruch –«

»Ja, ja, laß uns mit deinem Hausfrauengeschwätz zufrieden.«

»Stand dieser große Schrank von jeher hier, oder kam er erst später hierher?« Hendrik blickte anscheinend in Erinnerung verloren in der Stube umher.

»Der steht schon so lange hier, als ich lebe.«

»Ein schweres Stück. Bei uns zu Lande hat man einen so plumpen Geschmack. Man muß[170] ein Riese sein, um solche Möbel von der Stelle rücken zu können. Drüben ist alles leichter, bequemer, mehr für die Veränderung eingerichtet.« Und er begann von überseeischen Städten zu erzählen, wo er länger geweilt hatte. Emmerich hörte ihm neugierig zu und unter brach ihn durch tausend Fragen. Sie rauchten. An den Fenstern rüttelte der Herbststurm. Auf Kyrillas Wangen hatte sich ein leichtes Rot entzündet. Zum erstenmal lag Wärme und Behaglichkeit über der großen, sonst öden Stube. Als ob die Möbel plötzlich Herzen bekommen hätten.

Das Essen wurde abgetragen. Kyrilla holte ihre Handarbeit herbei, that aber nichts. Ihre Hände lagen müßig im Schoß. Ihre Blicke hingen an Emmerichs Gesicht. Ihn machte das innerlich unruhig. Sie that das doch sonst nicht. Weshalb heute? Wollte sie vor seinem Freund Liebe zu ihm heucheln? Hätte er in ihr zitterndes Herz blicken können, das sich mit all seinen Schlägen an ihn anklammerte!

Sie sagten einander ziemlich spät gute Nacht. Emmerich wäre am liebsten hier noch stundenlang sitzen geblieben. Mit Hendrik allein. Er hatte die ganze Zeit über nach einem Vorwand gesucht, Kyrilla zu entfernen. Aber er hatte keinen gefunden. In der Folgezeit würde er es schon klüger einrichten. Heute war er zu aufgeregt. Wenn er sich vor ihr nicht geschämt hätte, er würde Hendrik noch eine große Dankrede gehalten haben.[171]

Am andern Tage führte er ihn nach den Wirtschaftsgebäuden. Sie durchstreiften den Garten, der trübselig im Nebel dastand. Nachmittags fuhren sie nach Kristan hinaus, wo Tralgoths Weingärten lagen. Als sie nach Hause gekehrt waren, drehte sich ihr Gespräch ausschließlich um wirtschaftliche Dinge. An Kyrilla richtete keiner das Wort. Sie gewann ihre Fassung wieder. Die Wogen ihrer Erregung legten sich. Hendriks Art hatte etwas ungemein Beruhigendes an sich. Sie fühlte es: er verstand sie, wie er sie damals verstanden hatte. Daß er aus eignem Antrieb hierher gekommen war, glaubte sie nicht. Emmerich mußte ihn dazu bewogen haben. Ahnte er denn garnicht? – Nein, nein. Und was auch? Daß zwei junge Menschen vor einigen Jahren einander auf der Straße begegnet waren und bei ihrem gegenseitigen Anblick ein Zittern verspürt hatten? War dies überhaupt für einen dritten etwas wichtiges?

Nach einigen Tagen holte Emmerich seine Wirtschaftsbücher hervor und beriet lange mit Hendrik. »Also du fügst dich allem, was ich thue,« bemerkte Hendrik. »Studiert habe ich ja nicht, aber mir stehen mancherlei Erfahrungen zur Seite. Besonders glaube ich den richtigen Instinkt in der Behandlung der Leute zu besitzen. Daß sie dich unverschämt betrügen, sehe ich wohl. Das kann man nicht mehr ändern. Auch kann[172] man aus Dieben keine ehrlichen Leute machen. Aber andere Leute kannst du dir mieten und die alten entlassen.«

Emmerich seufzte und schritt unschlüssig auf und nieder; dann blieb er vor Hendrik stehen. »Meinetwegen, thu's.«

»Ferner,« meinte Ösz, »mußt du deinen Leuten mehr Lohn geben. Giebst du ihnen zu wenig, so bestehlen sie dich, um ihr Auskommen zu finden.«

»Das werden sie auch dann noch thun,« sagte Emmerich skeptisch.

»Das glaub' ich nicht, denn jeder zögert, eine gute Stellung zu verlieren, ein Risiko, das er immerhin übernimmt, wenn er auf eigene Faust sich zulegt.«

»Aber deinen Vorschlägen zu folgen, wird mich Geld kosten, viel Geld.«

Hendrik zuckte die Schultern. »Man muß manchmal verschwenden, um zu ersparen. Da nützt nichts. Übrigens wirst du es wieder einbringen. Augenblicklich steht es ja nicht besonders günstig mit dir.«

»Und wie war es früher,« rief Emmerich und schlug sich ärgerlich vor den Kopf. Er entließ mehrere seiner Leute. Hendrik mietete neue. Dann begannen sie einige bauliche Veränderungen an den Wirtschaftsgebäuden vorzunehmen. Mancherlei Neuanschaffungen für Garten und Feld wurden gemacht. Emmerich ging mit[173] sorgenvollem Gesichte umher. »Es ist ja alles ganz schön,« meinte er, »aber woher werde ich das Geld nehmen, um alle diese Unkosten zu bestreiten.«

»Bleib's schuldig,« entgegnete der Freund phlegmatisch.

»Wie, mit Kredit sollt' ich arbeiten? Das hab' ich noch nie gethan.«

Hendrik lächelte. »Weshalb bist du eigentlich kein Schneider geworden? Deine ganze Veranlagung bestimmt dich dazu. Du bist ein Centimetermensch.«

Emmerich trommelte ungeduldig auf dem Tisch. Die Art seines Freundes, die Wirtschaft einzurichten, flößte ihm Angst ein. Aber dagegen aufzutreten, vermochte er nicht. Er hatte ihm ja schrankenlose Vollmacht erteilt.

Eines Mittags, als sie beim Essen saßen, ließ sich an der Thür ein leises Geräusch vernehmen; der Drücker bewegte sich fast unmerklich. Alle drei sahen gespannt dem sonderbaren Vorgang zu. Kyrilla wollte nachsehen, aber Emmerich hielt sie zurück. In sein Gesicht trat ein nervöser, lauernder Ausdruck. Was bedeutete das? Es war wieder etwas. Endlich sprang Hendrik auf und öffnete die Thür. Auf der Schwelle stand Bela, mit nur einem Strumpf bekleidet, in einem kurzen Wollröckchen, und blickte mit leuchtenden Augen zu Hendrik auf.

»Du, kleiner Bursche!« Hendrik beugte[174] sich lachend zu ihm nieder. »Was willst du denn?«

»Nehmen, nehmen!« stammelte der Kleine und streckte die Arme nach ihm aus.

Hendrik hob ihn auf und trug ihn zu den andern am Tisch. Kyrilla war wie ein junges Mädchen errötet und sah ihren Jungen scheu von der Seite an. Bela saß strahlend vor Vergnügen auf Hendriks Knien und klammerte sich an seinen Hals.

»Hat jemand schon so etwas erlebt?« Emmerich konnte sich garnicht fassen vor Verwunderung. »Seit wann kennt ihr einander so genau?«

»Wir begegneten uns hier und da und sagten uns guten Tag.«

Liska steckte den Kopf zur Thür herein. Ah, da war er! Heilige Maria, und nur mit einem Strumpf bekleidet. Sie wollte den Jungen an sich nehmen, er aber begann ein ohrenzerreißendes Geheul und steckte seinen Kopf unter Hendriks Arm. »Laßt ihn,« sagte Hendrik lächelnd und legte seinen Rockzipfel über den linken nackten Fuß seines Schutzbefohlenen. »Hör', aber zu brüllen mußt du aufhören, sonst geht's hinauf.« Als Antwort hob der Junge den Kopf auf, drückte einen Kuß auf Hendriks Mund und war mäuschenstill. Die beiden Männer lachten. Kyrilla stand auf und langte nach ihrem Sohn. »Komm, Bela, wir wollen hinaufgehen, komm!«

»Lassen Sie mir ihn doch!« Hendrik vermied[175] es, sie anzublicken. »Er ist ein so lieber, drolliger Bursche. Es schadet ja nichts, wenn ich ihn ein wenig halte.«

»Geh' weg,« wandte sich der Junge zu seiner Mutter, »ich brauch' dich nicht.«

Sie sagte leise: »Bela!« Er legte den kleinen Daumen an die Stumpfnase, was irgend eine Grimasse bedeuten sollte.

»Das hast du von deiner Kindererziehung.« Emmerich sah sie höhnisch an. »Man sagt immer, wem Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch den Verstand, aber das trifft nicht immer zu. Komm, mein Junge, komm zu deinem Vater, der versteht dich besser zu erziehen.«

Er wollte den Buben auf den Arm nehmen. Bela griff nach der Serviette vor sich auf dem Tisch und warf sie ihm ins Gesicht. Im Nu hatte er eins hinter den Ohren und stand auf seinen beiden ungleich bekleideten Beinen auf dem Boden. Hendrik sah ihn stirnrunzelnd an. »Marsch, hinaus, ungezogener Gassenjunge; wenn du das noch einmal thust, hau' ich dich durch.« Der Kleine brach in ein fürchterliches Geheul aus, griff sich mit beiden Händen ins Haar und lief nach der Thür. Er konnte die Klinke nicht erreichen; Kyrilla sprang hin und öffnete. Er schob sie fort, stand einen Augenblick auf der Schwelle, lief heulend ins Zimmer zurück und drückte sein kleines, nasses Gesicht auf Hendriks Knie. Dieser zog heftig an seinem Schnurrbart.[176] Er hätte den Kleinen am liebsten an seine Brust gepreßt, aber er zwang sich, kühl zu bleiben. »Ich mag dich nicht, solang' du so unartig bist; geh' mit deiner Mutter hinauf.«

Kyrilla nahm ihren Zeter und Mordio heulenden Sohn an der Hand und verließ mit ihm die Stube.

Emmerich sah hämisch den beiden nach. »Vaterfreuden!«

»Du verdienst keine bessern.« Hendrik erhob sich und schritt auf und nieder.

»Wieso?« fragte Emmerich erstaunt. »Thue ich nicht alles für das Kind? Mein ganzes Rechnen gilt ihm. Glaubst du, ich gäbe mir sonst noch Mühe, etwas zu erreichen?« Er schnippte verächtlich mit den Fingern. »Nicht so viel. Meinetwegen könnte die ganze Wirtschaft verkrachen.«

Ösz blieb stehen. »Wenn du das Kind liebst, mußt du vor allem sein Herz nicht in Zwiespalt bringen.«

»Was heißt das?«

»Du setzest seine Muter herab. Es weiß nicht, was es von ihr zu halten hat.«

Emmerich ließ ein kurzes Lachen vernehmen.

»Die! Wegen der!«

Hendrik verschränkte die Hände auf dem Rücken und trat dicht an ihn heran. »Hat sie irgend etwas unrechtes begangen? Hat sie einen schlechten Charakter?«[177]

Emmerich trommelte auf den Tisch. »Keine Rede davon, keine Rede davon.«

»Nun denn, was hast du gegen sie?«

»Hm,« machte Emmerich bitter.

»Sie geht wie ein mißhandelter Hund im Hause herum. Neulich abends befahlst du ihr barsch, auf ihr Zimmer zu gehen, und sie gehorchte, ohne ein Wort zu verlieren. Aber ich wagte nicht, in ihr Gesicht zu schauen.«

»Ein mißhandelter Hund! Hahaha,« lachte Emmerich. »Wenn du wüßtest, welchen Stolz das Weib in sich trägt. Wie sie mich verhöhnt!«

»Woraus schließest du das?«

»Aus ihrem Schweigen. Sie schweigt zu allem, was ich sage. Ein ehrlicher Mensch redet, verteidigt sich, gerät in Hitze. Sie bleibt kalt und schweigt.«

»War sie schon in der ersten Zeit so?« fragte Hendrik und nahm seinen Gang durchs Zimmer wieder auf.

»Ja, schon damals. Damals dachte ich, es wäre die Blödheit der Jugend. Ich ließ sie gehen. Jetzt ist sie mehrere Jahre älter.«

»Und du läßt sie auch gehen.«

»Natürlich, was sollte ich denn thun?«

Hendrik brach in ein krampfhaftes Lachen aus. »Was soll ich thun? Was soll ich thun? Großer Gott!« Er schlug sich vors Gesicht. »Hast du mich auch zum Verwalter über deine Ehe gesetzt?«[178]

Emmerich sah ihn verständnislos an. »Wie meinst du?«

»Ich meine, daß mich deine Ehe nicht das geringste angeht. Schlagt euch meinetwegen tot. Wir sprachen von dem Kind. Von dem Kinde, verstehst du?«

»Wir werden uns nicht totschlagen, sei unbesorgt. Wenn das Kind älter ist, geb' ich es in eine Erziehungsanstalt. Besser, als ihr es überlassen. Sie hetzt es gegen mich auf.«

»Weißt du das?«

»Ihr Benehmen gegen mich ist allein schon Aufhetzung.«

»Und deins?«

»Nun – vielleicht ebenfalls. Ich bin ein ehrlicher Mann und gestehe es ein.«

»Armer Junge!« sagte Hendrik. »Vater und Mutter sind ehrliche Leute, und doch – hm. Was meinst du wohl, was unter solchen Verhältnissen aus dem Kinde wird?«

»Ich thue meine Pflicht, das Übrige geht mich nichts an.«

Sie kamen auf anderes zu sprechen.[179]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 169-180.
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