[237] »Johanne!« rief Lohringer, »ists möglich? Erlebe ich es, oder träumt mir?«
»Sie erleben es« sagte sie und ließ sich in einen Sessel fallen.
»Was ist Ihnen geschehen?« Er trat zu ihr und ergriff ihre beiden Hände.
»Ninive hat mir eben den letzten Gnadenstoß gegeben«.
Bis so weit reichte ihre erzwungene Fassung. Dann sank sie zurück. Er sprang nach Wasser, rieb ihr die Schläfen ein, und hauchte auf ihre eiskalten Hände.
Endlich schlug sie die Augen auf. Und jetzt brach ein heißes Schluchzen aus ihr.
Lohringer hatte viele Frauen weinen sehen, aber das hatte er noch nicht erlebt. Hier schien ein Herz in Thränen zu schmelzen.[237]
Er schritt ganz blaß im Zimmer auf und nieder, während sie weinte, weinte, weinte.
Endlich setzte er sich, mit dem Rücken gegen sie, in eine Zimmerecke und saß so, wie ihm schien, eine Stunde lang. Sie weinte noch immer. Da stand er auf, trat zu ihr und sagte: »Aber zum Donnerwetter, jetzt ists genug«. Er faßte ihren Kopf zwischen seine beiden Hände und sah ihr in die hochroten, verschwollenen Augen. »So groß ist das Unglück nicht, Johanne, glauben Sie doch. Mit zwanzig Jahren. Ich bitte Sie! Sie werden sich schon wiederfinden«.
Sie fuhr auf. »Ich mich finden? Ich habe mich ja garnicht verloren, Lohringer«.
»Na was zum Teufel flennen Sie denn?«
Er ließ ihren Kopf los und begann wieder im Zimmer auf und nieder zu schreiten.
»Was haben Sie denn, Johanne? Sie sind doch ein so vernünftiges Mädchen. Ein liebes Mädchen! Weiß Gott, Sie waren mir immer wert; ein paarmal war ich schon nahe daran, es Ihnen zu sagen. Aber Sie waren ja damals so riesig dumm. Glaubten immer, ich hätte einen Schwarm für Frau Schüler. Und mich dauerte das kleine Geschöpf nur, weil sie einen Schuft zum Mann hatte und weil – ich nicht erwidern konnte, was sie für mich fühlte. Mit der Zeit hat sies auch gemerkt, trotzdem ich für sie that, was ich konnte. Aus[238] Trotz ist sie mit Babinsky, der in der letzten Zeit viel bei ihnen verkehrte, durchgegangen. Und wo waren Sie, Johanne?« fragte er sich unterbrechend und blieb vor ihr stehen.
Sie erwiderte eine Weile nichts, dann: »Kennen Sie Meister Johannes?«
»Den großen Erzgauner, der sich für den Propheten Elias oder sonst wen ausgiebt? Na und ob. Wer kennt den nicht hier? Was ist mit ihm?«
»Ich war bei ihm als Sekretärin angestellt«.
»O, Sie Aermste«. Weiter sagte er nichts. Dann holte er eine Flasche und zwei Gläser und goß ihr Wein ein; sie trank, trocknete sich die Augen und seufzte.
»Wie konnten Sie das thun? Ich erfuhr durch Bekannte, daß Sie irgend eine Stellung angenommen hatten, aber welche und wo, wußte ich nicht, sonst hätte ich Sie am Schopf von dort entführt«.
»Wewerkas warnten mich ja, aber ich glaubte ihnen nicht. Sie wissen, ich – ach, ich war eine große Närrin«. Sie lachte, indes ihre Augen tropften.
»Mir scheint wahrhaftig, jetzt haben Sie nicht unrecht«. Er faßte freundschaftlich ihre Hände. »Dachten Sie denn nicht gleich, daß ein Kerl, der aus dem Glauben harmloser Esel Münze schlägt, ein Bauernfänger sein muß? Ein anständiger Mensch läßt sich doch nicht von Andern erhalten, es sei denn, er wäre alt, schwach oder[239] krank. Der Meister zählt vierzig Jahre, ist nicht auf den Kopf gefallen, wie seine schlau angestellten Schwindeloperationen zeigen, hat also gar keine Entschuldigung für sein Faulenzerleben«.
»Sie haben recht, aber Sie wissen ja –« das kleine Mädchen aus früheren Jahren brach wieder durch, »ich sehnte mich so sehr nach etwas Großem, Gewaltigem, dem ich mich ganz hingeben durfte. Die Künstler entpuppten sich als etwas ganz anderes, als ich in ihnen vermutete. Da dachte ich, vielleicht hält die Religion, was die Kunst versprach. Er nannte seine Lehre das neue Evangelium. Ich wollte dessen Priesterin werden«.
»Sie waren eben ein Kind, Johanne, sonst hätten Sie nicht Menschen, die durch aufsehenerregende Kleidung, durch Kokettieren mit Verfolgungen, durch ein nach allen Seiten hin auffallendes, herausforderndes Benehmen die Aufmerksamkeit der Leute auf sich ziehen wollen, für wirklich fromme Männer gehalten. Es sind gemeine Reklamehelden, die so handeln, nichts anderes. Ebenso wenig wie ein großer, echter Künstler in die Posaune für sich stoßen läßt, ebenso wenig kehrt ein echter Gottesmann den Christustypus heraus und zieht mit wallendem Haupthaar und nackten Füßen durch die Welt«.
Johanne stand auf, trat ans Fenster, sah einige Zeit hinaus und wandte sich dann wieder zu ihm.[240]
»Das war die andere Seite, Lohringer, nun kenn ich die auch. Religion und Kunst werden gefälscht in Ninive. Schade um die vielen Gläubigen ...«
»Ach Johanne« er machte eine geringschätzige Handbewegung, »sagen Sie nicht: schade. Was sich hier zusammenfindet, ist bereits angefault. Ninive ist der große Kanal, in dem alle Schmutzkloaken des Reiches zusammenfließen. Ninive ist der Schlupfwinkel aller dunklen Existenzen, die ungestört ihre Maulwurfsarbeit verrichten wollen, Ninive ist der Zufluchtsort der impotenten Halbkünstler. Hier suchen sie durch Extravaganzen, durch Geschrei und Verbrüderung mit Tagesgrößen ihre unbekannten Namen dem Volke ins Gedächtnis zu prägen. Oder glauben Sie wirklich, daß ein echter Dichter hierher käme, um zu arbeiten? Ich sage Ihnen, Johanne, der verbirgt sich in die tiefste Einsamkeit und baut schamhafte Entfernungen zwischen sich und die Menschen. Ein echter Dichter bedarf nicht der ›Anregung‹ auf den spektakelerfüllten Straßen; der hat Anregung in sich genug. Der braucht nicht mit Kollegen im Café zu sumpfen, um die Stoffe, die er ausarbeiten will, zu besprechen. Der hat in sich Rat und Wissen; der braucht nicht die kleinen Mädchen von der Straße auszuholen, dem weist der Genius die letzten dunkelsten Abgründe der Menschenbrust«.
Johanne hörte ihm aufmerksam zu. »Sie haben[241] recht. Heute weiß ich es, weil ichs erfahren habe; früher dachte ich mir das ganz anders«. Sie ließ sich nieder. »Wissen Sie auch, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin, Lohringer?«
Er hielt in seinem Auf- und Niederschreiten inne, und senkte die Augen.
»Nein, eigentlich nicht. Aber ich bin garnicht neugierig. Sie sind da, und das ist mir eine große, sonnige Freude«.
»Als mich die tiefste Ratlosigkeit und Verzweiflung packte und ich nicht ein noch aus wußte, standen Sie plötzlich vor mir. Da lief ich schnell her. Ihre Adresse hatte ich noch behalten. Sie müssen mir raten, was ich thun soll. Auf was ich mich werfen soll, um nicht – gar zu traurig zu werden«.
Er ließ sich neben ihr nieder und sah ihr fest in die Augen. »Vor allem: fort von hier«.
»Wie?« Trotzdem sie diese Stadt verabscheuen gelernt hatte, erschien ihr der Gedanke, fort zu sollen, doch nicht einleuchtend. »Wie« sagte sie schüchtern, »glauben Sie wirklich, daß kein Platz für mich hier ist?«
Er schüttelte energisch den Kopf.
»Nein, nein, für Sie ist kein Platz da. Sie sind ein Kind. Was sollen Kinder in einer großen, fremden, verderbten Stadt? Sehen Sie, auch Dichter sind Kinder; deshalb meiden sie diese nüchternen, staubheißen Städte,[242] diese Millionenstädte, welche der geistige und physische Ruin der Nationen sind. Gehen Sie aufs Land, wo die Quellen rauschen und die Vögel singen. Gehen Sie in die schöne, schlichte Einsamkeit, wo die Luft rein ist und die Menschen harmlos und naiv sind. Gehen Sie nach Sienenthal zurück«.
»Nach Sienenthal!« Ein warmer Ton klang durch ihre Stimme. »Aber – was soll ich dort thun?«
»Haben Sie denn gar Niemand dort?«
»Den alten Pastor, ein paar junge Mädchen, den Vormund und –«
»Und?«
»Ein altes Häuschen mit schiefem Dach, vor dem ein Garten liegt«.
»Und da fragen Sie, was Sie thun sollen, und da sagen Sie, einsam wären Sie dort? Ein Häuschen mit schiefem Dach und einen Garten davor, und – zwanzig Jahre alt –«
»Und traurig bis zum Sterben dabei« fügte sie leise hinzu, und ihre Augen begannen aufs neue zu tropfen.
»Und wer pflegt die Blumen und streichelt mit liebevollen Blicken das alte, müde Häuschen, das gewiß Mutter und Großmutter schon bewohnten, und das jetzt einsam steht und friert, und –«
»Ich werde mich fürchten. Es sind nur drei Stuben drin; aber die werden mir unendlich still vorkommen«.[243]
»Nehmen Sie sich eine brave Magd, Johanne. Und wie lange denn, dann kommt Einer und begehrt Sie zum Weibe und führt Sie aus dem Häuschen weg«.
Sie lächelte. »Damit schrecken Sie mich nicht«.
»Sie haben ja nichts verloren, Johanne«, seine Augen blickten sie warm und so innig an, daß sie die ihren senkte – »manche Verwundung tragen Sie davon, aber ärmer kehren Sie nicht heim. Sie haben tapfer Ihren Schatz behütet, Kind; schütteln Sie leichten Herzens den Staub von den Füßen. Die Röte Ihrer Wangen wird wiederkehren und mit ihr wieder der Glaube an das Gute, den Sie heute verloren wähnen«.
»So soll ich wirklich gehen? Sie werden mich daheim auslachen, daß ich so schnell zurückkehre«.
»Ist dies nicht harmloser, als wenn ein oder der andere Schurke hier über Sie triumphiert hätte?«
Sie nickte. »Das schon, aber –«
»Apropos« sagte er plötzlich kühl, die Augen von ihr ablenkend, »haben Sie auch Geld zur Heimreise? Ihr Vormund kanns mir ja zurücksenden, wenn Sie dort sind; ich strecke Ihnen einstweilen vor.«
Sie dankte. »Ich habe freilich noch Geld. Nicht viel, aber genügend, um nach Hause zu kommen. Ich brauchte ja nichts in letzter Zeit. Mein Zimmer ist für einen Monat vorausbezahlt«.
Er spielte mit den Enden seines weichen Schnurrbarts.[244]
»Wissen Sie es ist eigentlich furchtbar dumm von mir, daß ich Sie berede, fortzugehen. Gerade ich« er stockte, dann sah er ihr voll in die Augen, »aber ich mag Sie von Herzen gern leiden und möchte Ihr Bestes; selbst wenn dieses mit der Befürchtung verbunden wäre: Sie nie wiederzusehen«.
»Warum das?« fragte sie leise. »Wenn ich ja hingehe, können Sie mich doch besuchen«.
»Besuchen?« Er schüttelte den Kopf. »Und selbst wenn ichs thät, was gälte es Ihnen? Sie suchen Ganzes und verabscheuen die Halben, und ich gerade bin so ein Halber, ein Viertelsmensch. Wenn ich das nicht wäre, Johanne, und wenn ich zehn Jahr jünger wäre« – sie errötete brennend, »und es hier nicht gar so nüchtern aussähe« er fuhr sich über den kahlen Schädel, »dann würde ich jetzt wohl sagen: ›Johanne, nehmen Sie mich mit nach Sienenthal und‹ – na, fort damit«.
Er erhob sich und schritt wieder auf und nieder.
»Wenn Sie die Einsamkeit so lieben, warum bleiben Sie hier wohnen?« fragte sie. »Warum gehen Sie nicht hin, wo es still und ländlich ist?«
»Ja, die Frage, die spricht ein Kindermund leicht aus, aber sie beantworten kann kein Weiser. Warum sieht man oft ein, daß man wie ein Lump handelt, und ändert sich doch nicht. Warum erkennt man, daß[245] dies oder jenes der Gesundheit Gift sei – man lebt höllisch gerne – und fährt doch ruhig fort, das Gift zu genießen. Warum? Wer weiß es? Wenn ich Ihnen gestehe, daß mir diese Caféhausabende mit ihrem ewig gleichen, nichtssagenden Geschwätz, ihrer ewig gleichen geistigen Langenweile unentbehrlich sind, daß mir diese staubigen, menschendurchwühlten Straßen mit ihrem ohrenzerreißenden Getöse täglich zu durchbummeln, unerläßliche Gewohnheit ist, würden Sie mich auslachen. Und doch ists so. Ich brauche diese dicke, von tausend Gerüchen, von Qualm und Staub und fremdem Odem geschwängerte Luft. Ich würde verzweifeln, wenn ich sie mißte. Für mich ists zu spät, auf einem andern Boden Wurzeln zu fassen. Ich geh schon als Halber hinüber. Ich seh wie ein Gelähmter die schöne grüne Welt um mich, aber ich kann nicht zu ihr«.
Johanne senkte traurig den Kopf. Beide schwiegen eine Weile; dann erhob sie sich. Sie faßte seine Rechte: »Dank Lohringer, ich will – einpacken«.
»Also wirklich!« Er sagte es halb schmerzhaft, halb freudig. »Nun Gott mit Ihnen, mein liebes, gutes Kind! Und eins müssen Sie mir versprechen: Kommt es einmal in Ihrem Leben, daß Sie der Hilfe oder des Rates eines treuen Menschen bedürfen, dann – erinnern Sie sich meiner«.[246]
Er nahm eine Karte aus seinem Portefeuille, auf der sein Name und seine Adresse stand. »Hier. Adieu Johanne«.
»Adieu« hauchte sie »und behalten Sie mich in gutem Andenken«.
Er lächelte, wendete sich rasch um und ging zum Fenster.
Sie eilte fort.[247]
Buchempfehlung
Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.
70 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro