Zwölfte Fahrt
Die hohe Schule St. Görgen – dasige Philosophen und Philologen – das falsche Echo – kostbares Fragment von J. P.

[992] Jetzt würd' ich vielleicht nach der Schweiz gelangen, wenn der Wind nur noch drei Tage so südlich fortbliese. Es schadete nichts, daß ich bloß auf einen einzigen mit meinem Luft-Marktschiff einen Wind-Markt, die Universität St. Görgen40, bezog. Unter der Niederfahrt flog ich vor einem hohen Fenster vorbei, wodurch ich den berühmten Deutschlands-Renner Langheinrich, der schneckenmäßig jedes passierte Städtchen mit seiner reisehistorischen Dinte beschleimt, steif auf einem Sessel sitzen sah, ich weiß aber nicht – denn er steht schon als dessus de porte vor der all gemeinen deutschen Bibliothek –, ließ der Harttraber sich ab zeichnen oder einseifen. Beiläufig! warum verschleudert man ein ganzes heraldisches Figuren-Kabinett von so vielen Ökonomen, Philologen, Juristen als Titelblatts-Vorzimmer für Krünitzens[992] Enzyklopädie, die allgemeine deutsche Bibliothek u.s.w.? Die Physiognomen und Maler wollen mit diesen emsigen, aber so gemeinen Gesichtern wenig verkehren, da ohnehin auf allen Wochen-Märkten solche physiognomische Ware umsonst zu haben ist. Der Liebhaber und Freund will gern den Kopf besonders haben zum Genuß, ohne den schweren Band. So hab' ich z.B. mir eine ganze Suite solcher Köpfe aus großen Werken geschnitten und führe die Suite bei mir; gelang' ich nun einmal zum ruhigen Stillsitzen – welches jeden Morgen nach der ersten Tasse schwarzen Kaffee geschieht –, so zieh' ich meinen Kopf hervor, präge dessen Projektion recht tief dem meinigen ein und tue dann meinerseits auch für die Kehrseite etwas. So werd' ich ewig durch Köpfe von Kopf gehoben und verfeinert und gehe dann leicht als geseimter Honig aus der Welt.

Ich lief zu keinem einzigen Genie in St. Görgen. Mein Stolz würde sich dagegen aufbäumen, wenn ich vor den Thronsessel der sogenannten Genies auf unsichtbaren Regenwurmfüßen mich hinziehen wollte, da er und ich das egoistische Pusten und Blasen und sogar die mündliche Leerheit dieses fliegenden Corps seit Jahren kennen; von ihnen ist wenig mehr zu holen als das Weiber- oder Kunkellehn, der Körper, von einem andern, obwohl unberühmten Mann aber sehr oft ein gescheutes Wort, so wie nur unberühmte Leute, deren literaturbriefliche Rezension die Antwort des Freundes ist, die bessern Briefe schreiben. Aber ich hospitierte sehr in St. Görgen. Ich freuete mich den ganzen Tag, daß öffentliche Lehrer das jus Archivi41 haben und ich ihnen also Sachen glauben durfte, die sie gar nicht erwiesen. In drei philosophischen Hörsälen sonderte ich besser ab, nämlich mein Leib, der Appetit wurde geschärft und das Muskelnspiel zumal auf dem Gesichte frisch beseelt42 – welches alles das zuverlässigste Zeichen war, daß ich noch mit gemäßigtem und unschädlichem[993] Tiefsinn wirtschaftete und die Wahrheit hetzte, so wie die drei Lehrstuhl-Statisten ebenfalls; wären wir vier syllogistischen Figuren mit starkem und unnatürlichem zu Werke gegangen, so hätten die sechs nicht natürlichen Dinge mehr gelitten als gewonnen, und wir wären nach Hause gekommen ganz verstopft, gesichtsfaltig, muskelschwach und halb aufgelöset. Warum halten aber Kreis- und Stadtphysici bloß bei sich, und nicht auch bei philosophischen Adjunkten darauf, daß nie länger und tiefer philosophiert werde, als es dem Magen Freude macht? – Stille Narren in Bicetre flechten in ihren guten Stunden Strohschachteln; leere, feste Wortformen sind dergleichen, und jeder Philosoph wird sie flechten, der seinen Muskeln und Zuhörern mehr geben als nehmen will.

Nachher hospitiert' ich weiter herum bei den Philologen, Historikern und Ästhetikern. Ein alter Prorektor gewann mich durch das komische Licht, das er auf sich warf, da er den Ovid von der Liebe ernsthaft und murrend durchging, ohne – als bleicher Bleicher der klassischen alten Wäsche und Dezennien lang den Schimmel der Varianten und Konjekturen mähend – in seinem Leben mehr törichte Jungfrauen gekannt zu haben als die fünf Direktricen davon in den vier Evangelisten. – Aber wird ein gesetzter Schulmann, der unter den Hetären bloß mit der babylonischen und unter den idealischen Madonnen bloß mit seiner Hausehre und der Wickelfrau im Vorbeigehen verkehrte, nicht ordentlich verschwendet, wenn ihn Redakteure nötigen, im Schlafrock und Schlafkranz durch Zimmer voll junger, in Verse oder doch zu Papier gebrachter Liebender mit der Rezensionsfeder hinter dem Ohre invigilierend zu marschieren und das allgemeine Knien, Anbeten, Liebeserklären, Brennen aus dem Munde und Küssewerfen in allen Stuben genau zu examinieren und sozusagen zu kredenzen – wie abgeschmackt und widrig schmeckts dem alten Manne! – und nachher Tabellen davon einzureichen? – Warum setzen dem Schulmann die Flammen, denen er in seiner Wirklichkeit entrann, noch auf dem Papiere nach? –

Vor den deutschen Kathedern fand ich wieder, was ich sonst in den deutschen Büchern verfluchte, nämlich ihre Liebe zu Bindwörtern;[994] sie schlichten Reifen in Gestalt eines Fasses aufeinander, und dann haben sie ein Faß. Die Setzer stellen zwischen jedes Wort ein sogenanntes Spatium; die Deutschen verlangen auch wohltuende Spatia zwischen den Gedanken und nehmen dazu Worte und Perioden. Einen, der mit seiner Sache auf einmal herausplatzt, sehen sie ganz verblüfft und erschrocken an; und fährt er gar fort und springt wieder von Bergspitze zu Bergspitze, ohne erst ordentlich hinab- und hinaufzuschleichen: so verlieren sie den Gipfelspringer sogleich aus dem Gesichte und erholen sich lieber an ihrem Reichsanzeiger, worin kein Mensch von vornen anfängt, sondern eher. Indessen hat der Fehler sein Gutes: der deutsche Autor und der Ton, die beide das Wasser nur in sich ziehen, aber nicht durchlassen, machen eben dadurch Quellen.

In meinem Wirtshaus fand ich um einen berühmten deutschen Romanschreiber, dessen Autorschaft eine lange deutsche Übersetzung seines französischen Geschlechts-Namens ist, einen Bogen Manuskript geschlagen, dessen ganz artige Sentenzen durchgestrichen waren; ich schälte ihn ab, um ihn hinter die zwölfte Fahrt zu heften. 43

Letztlich hospitiert' ich auch bei vier St. Görgnerinnen, Professorinnen; schon das akademische Gericht, das sie über die St. Görgner Lehrstühle hielten, konnte mich überzeugen, daß eine Universität – wenigstens in Rücksicht ihres friedlichen kollegialischen Lebens – dem Sacke nicht ungleich sei, worin man sonst einen Vatermörder ertränkte, und in welchem ein Hahn, eine Schlange, ein Hund und ein Affe (oder in dessen Ermangelung eine Katze) noch außer dem Mörder als Amtsbrüder beisammen hauseten.[995]

Ich ging etwan drei Stunden später ab als der langweilige Langheinrich, der sich einsetzte, um der Sitzwelt außer dem Konterfei seines Gesichts auch eines von den Ländern in die Hand zu geben, die er für würdig hielt, daß er darin stallen ließ. Ich sah ihn unten auf einer weiten Ebene fahren. Als sein Postillon zufällig den Dessauer-Marsch blies, setzt' ich mein Hörnchen an und repetierte wie ein Widerhall den Marsch schwach und stark dreiundzwanzigmal. Langheinrich steckte den Kopf heraus und übersah die leere Ebene, aus welcher das unbegreifliche Echo aus nichts akustisch herzuleiten war; indes verleibte er das merkwürdige Ereignis der Reisebeschreibung ein, um den Physiker zu befragen, was er sich bei dem dreiundzwanzigmaligen Wiederholen da, wo alles platt ist – moralisch ließe sichs eher glauben –, zu denken habe.

Das folgende ist das gedachte Manuskript:


*


Ich beschwöre es, daß es kein einziges Land gibt, worin einem Fürsten eine treue, alles berichtende Ambassade vom ersten und letzten Range so nötig und ersprießlich wäre – als sein eignes.


*


Wenn die Weiber von Weibern reden, so zeichnen sie besonders an der Schönheit den Verstand, und am Verstande die Schönheit aus, am Pfau die Stimme, das Gefieder an der Nachtigall.


*


Die Frau spielt auf der Bühne besser in einer Rolle, wo sie sich zu weinen stellt, als in einer, wo sie zu weinen hat.


*


Die Menschen verraten ihre Absichten nie leichter und stärker, als wenn sie sie verfehlen.


*


Der Scherz ist unerschöpflich, nicht der Ernst.


*[996]


Dem sentimentalen Heuchler lasse nicht lange Reden zu, weil er sich durch diese erweichen will. Manche können nur weinen, wenn sie reden.


*


Keine Versprechungen werden schwerer und später gehalten als die, bei welchen die Zeit der Erfüllung nicht bestimmt ist. Daher geben viele oft dem Freunde das geborgte Geld nicht zurück.


*


Man glaubt seine Fehler dadurch wieder gutzumachen, daß man sie sogleich hinterher bereuet; warum setzet man denn nicht voraus, daß der andere seine auch bereue, und daß er sie auch damit entsündige?


*


Verschwiegenheit wird darum so schwer, weil sie oft gar keine Grenzen der Dauer kennt. Eine funfzig Jahre lang dauernde gute Handlung wird dem Menschen gar zu sauer.


*


Unsere Begierde verschluckt, wie der Armpolype, mit der Beute zugleich die eignen Arme, die diese ergriffen.


*


Wie Geruch zu Geschmack, so verhält sich Erinnerung zur Gegenwart.


*


In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten.


*


Die Reformatoren vergessen immer, daß man, um den Stundenzeiger zu rücken, bloß den Minutenzeiger zu drehen brauche, oft den Terzienzeiger.


*


Gleich dem Jüngsten Tage verwandelt uns die Poesie, indem sie uns verklärt, ohne uns zu verändern.


*


Nur im Leiden sitzt man über seine Fehler zu Gerichte, wie man nur im Finstern Bläschen in großen Spiegeln untersucht und findet.[997]

40

Entweder es ist ** oder ***, aber gewiß nicht *. Den Reisenbeschreiber Langheinrich weiter unten kenn' ich weniger. D. H.

41

Nach diesem Jus machen Dokumente des Archivs auf Beweiskraft, auch wenn sie defekt, ohne Datum oder bloße Kopien sind, bloß durch ihren Ort Anspruch. Struvens Nebenstunden 6. Teil.

42

Nach Platners Anthropologie tut ein mäßiger Grad des Tiefsinns die oben gedachten guten Wirkungen auf die Gesundheit, so wie ein größerer die bösen. D. H.

43

Wunderbar! Das Blatt ist, wie ich sehe, aus dem Manuskript zu meinem Jubelsenior. Es ist mir aber lieb, daß ers der Fahrt angeheftet, weil doch damit den Kritikern ein wenig gewiesen wird, wie hart ich mich selber zensiere und wie viel ich ausstreiche, was ein anderer drucken ließe. Mit diesen ausgestrichnen Manuskripten wird indes (so hör' ich) ein ansehnlicher Handel getrieben, und sie werden von Nachahmern häufig gesucht, welche die Striche wegradieren und die Blätter als neue eigne Arbeit, wieder mit der ihrigen geschickt vermischt, zum zweitenmal den Setzern geben. D. H.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 992-998.
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