Nr. 55. Pfefferfraß

[963] Leiden des jungen Walts – Einquartierung


Der Notarius konnte eine ganze Nacht lang weder schlafen noch seinen Bruder lieben; sondern der Zorn war sein Traum, und das nächtliche Auftürmen zankender Gründe erhitzte ihn zuletzt dermaßen, daß er, wenn Vult sich an dessen Bett gewagt hätte, vielleicht fähig gewesen wäre, ihm zu sagen: »Ich rede nun anders mit dir, Bruder; setze dich aber nicht aufs scharfe Bettbrett, sondern mehr auf die Kissen herein!« – Unbegreiflich und unverzeihlich fand er dessen Kraft, Menschen ins Gesicht hinein[963] zu martern, den armen Flitte und ihn selber. Schon öfters hatt' er bei der Weltgeschichte versucht, in jene mächtigen Schnee- und Gletscher-Männer, welche mitten unter dem Hasse eines ganzen Hofs und Volks heiter glänzen und gedeihen, sich so gut poetisch zu versetzen als in andere Charaktere; aber es hatte nie besondern Erfolg – er wäre ebensogut einer Statue durch den Mund ins Herz gekrochen. Ihm griff schon ein Menschen-Antlitz in die Seele, und wär' es punktiert an der Puppe eines Nachtschmetterlings erschienen oder wächsern an der Puppe eines Kindes; er hätte beide nicht kalt eindrücken können mit dem Daumen.

Er stieg aus dem Bette in einen platt-gemähten Herbsttag: denn er wollte, wie er pflegte, lieben und der süßesten Empfindung kaum mächtig sein; fand aber nichts Brauchbares dazu, sondern nur die Zuckersäure der vorigen Zuckerinsel. Jetzt stellte er sich, da es sein erstes Zürnen war, recht dazu an. Ein Herz voll Liebe kann alles vergeben, sogar Härte gegen sich, aber nicht Härte gegen andere; denn jene zu verzeihen ist Verdienst, diese aber Mitschuld.

Darauf machte er sich auf den matten Weg aufs Rathaus, um da, wie bisher, sich für seine Erbamts-Sünden wacker abstrafen zu lassen. Der Spaßvogel Flitte, jetzt sein gestriger Unglücksvogel, war schon da – denn er hatte fast nichts auf der Erde als Zeit –; samt Paßvogeln, dem Buchhändler. Walt sah so liebegießend dem Elsasser ins Auge, als hätte dieser sich für ihn verbürgt; nie warf irgendein Fegfeuer auf den Gegenstand, der es für ihn schuldlos angezündet, vor seiner Seele irgendeinen gelben häßlichen Widerschein; vielmehr freuete er sich recht, allein im Fegfeuer zu stehen und den Fremdling rein aus den Flammen anzuschauen.

Der Testaments-Ober-Vollstrecker, Hr. Kuhnold, eröffnete nach der siebenten Klausel – möchte doch jeder Leser das Testament aus dem Buche herausgeschnitten, broschiert, immer neben sich haben – den geheimen Artikel des Reguliertarifs, der rechtmäßig zu öffnen war. In der Tat war darin auf jeden französischen Germanismus, den Flitte von ihm an Eidesstatt berichten würde, ein Tag verspäteter Erbschaft zur Schulstrafe gesetzt. Flitte erwiderte[964] darauf, er wisse niemand, der soviel Organ für französische Sprache besitze, sowie Kalligraphie dafür, als Herrn Walt, und er entsinne sich keines erheblichen Fehlers. Walt griff nach dessen Hand und sagte: »O wie schön, daß ich mir Sie so immer dachte! Aber meine Freude ist nicht so uneigennützig, als sie scheint, sondern noch uneigennütziger.« Der Ober-Vollstrecker wünschte ihm erfreuet Glück – desgleichen der Buchhändler – und jener bat ihn um die Wahl des neuen Erbamtes.

Es ist sehr schlimm für diese Geschichte, daß die Welt nicht die sechste Klausel »Spaßhaft und leicht mags« auswendig kann, auf welcher doch gerade die Pfeiler des Gebäudes stehen. Der Notar wußte sie ganz gut, und der Buchhändler am besten. Als Walt in dem Seelen-Rausche über die schönste Rechthaberei, die es gibt – sich nämlich nicht in guten Voraussetzungen von Flitte geirrt zu haben –, nicht sogleich das Erbamt erlesen konnte, das er bekleiden wolle: trat Paßvogel zu ihm und erinnerte ihn an den Buchstaben e der Klausel, welcher sagt: »Er soll als Korrektor 12 Bogen gut durchsehen.« – »Trefflich genug!« sagte Walt, verstand und erklärte sich dazu; – in das vom Nacht-Zorne zerfressene Herz flossen die kleinsten Ergüsse menschlicher Milde balsamisch-heilend ein.

Außerhalb der Ratsstube fand er auf einmal sein Herz um- und dem Bruder wieder zugewandt; Flitte war gerechtfertigt, er selber entschuldigt, und er verzieh in Massen, bloß weil er so viel – recht gehabt. Nachdem er eilig seinem geängstigten Vater den schönen Ablauf seines Wochenamtes geschrieben hatte: so machte er sich ernsthafter an seine alte Versetzung ins fremde Ich und fragte: »Kann denn Vult seine Handlungen nach andern Grundsätzen zuschneiden als nach seinen eigenen? Und wollt' er denn anders als ich selber eben für mich handeln? – Jeder begehrt von andern Gerechtigkeit und dann noch ein wenig Nachsicht dazu; ei gut, so geb' er andern auch beides, und das will ich tun.« Er fand zuletzt in Vults Stoßkraft eine Ergänzung seiner eigenen weichwolligen Außenseite; die Freundschaft und Ehe wird, so wie ein Fernrohr, durch Zusammensetzung erhobner und hohler Gläser gemacht.[965]

Was half aber sein aufgetanes Herz? Niemand ging hinein. Liebes-schamhaft harrte er, daß Vult nur eine Viertels-Elle von einer weißen Friedensfahne flattern ließe, um sogleich mit Liebesaugen in die fremde Seele einzuziehen; aber nicht einen Fingerbreit davon streckte dieser aus, sondern er schickte ihm Ausschweifungen für den Hoppelpoppel ohne ein Wort dazu. Walt sandte ihm mehrere Kapitel, die er in seinem Herzenskloster um so leichter aufgesetzt, da ihn Paßvogel noch immer auf den ersten Korrekturbogen warten ließ, so wie die Stadt ihn auf irgendein Notariats-Instrument, das ihn hätte stören und bereichern können. Ihnen fügt' er bloß zwei Streckverse bei:


I


Meine ganze Seele weint' denn ich bin allein; meine ganze Seele weint, mein Bruder!


II


Ich sah dich und liebte dich. Ich sah dich nicht mehr und liebte dich. So muß ich dich immer lieben, ich mag nun frohlocken oder weinen tief im Herz.


Einen Tag darauf schickte ihm Vult die ausgearbeitetsten Ausschweifungen zu und gedachte des Genusses kurz, den ihm jetzt Walts Hoppelpoppel oder das Herz zuführe, da jedes Kapitel mit wahrer Kunstwärme erschaffen sei und überfeilt – und schrieb noch, er selber schreibe zwar eifriger als je, dürfe aber nicht entscheiden, wie glücklich – und schrieb weiter nichts. »Nun denk' ich«, sagte Walt zu sich, »weiß ich recht gut, woran ich bin, ich bin fast sehr unglücklich – es ist vorbei mit dem Himmel, der sich hier auftat für mein Armen-Auge – Auf ewig ist mir der Bruder begraben und eingesenkt – Tritt er etwan einmal vor mich, so, weiß ich wohl, ists ein Antlitz grimmig verzogen, und mich wird schaudern durch mein Herz. O mein Bruder, wie schön war es einst, als ich dich noch umarmte und zwar weinen mußte, aber ganz anders!«

Darauf schrieb er wieder ein gutes Kapitel am Romane, schickt' es ihm mit folgendem, hier ganz mitzuteilendem Briefe:[966]


Bruder!

Hier! – – – – – –

Dein Bruder

G.


Vult versetzte nichts darauf. Gottwalt erzürnte sich nach der Tertien-Uhr; dann hatt' er wieder lieb nach der Turm-Uhr. Nur die Träume drangen mit ihren greulichen aufgerissenen Larven in seinen Schlaf, jede mußte wie ein Bruder aussehen, der ihn marterte auf einer unabsehlichen Folterleiter, auf der er ausgespannt lag von Stern zu Stern.

An einem November-Nachmittage ging er in das Wirtshaus zum Wirtshaus, wo er ihn, wie bekannt, nach einem langen Lebens-Winter gefunden hatte, wie einen Mai. Der herrnhutische Wirt prügelte eben, da er eintrat, die Wirtin aus dem Gasthofe hinaus, warf ihr seinen Jungen nach und schrie: wär' er kein Christ, so würd' er sie anders behandeln; so eben zähm' er sich, und kein böses Wort komme aus seinem Maule. Walten kannt' er gar nicht mehr, als dieser um das vorige, jetzt zugemauerte Oberzimmer anhielt, wo er im Juli geschlafen hatte. Teils Würste, teils Flachs auf Stroh waren darin auseinandergebreitet.

Er entfloh auf den herrnhutischen Gottesacker, wo er einstens, als die Sonne unter – und der Bruder aufging, so froh und so neu geworden. – Aber die Bäume waren, anstatt begrabne Gerippe laubig zu bedecken, selber steilrechte geworden – dabei schneiete es regnerisch – mehr das Gewölke als die Sonne ging unter – und Abend und Nacht waren schwer zu sondern. Der Notarius sah aus wie der eben regierende November, der, noch weit mehr dem Teufel als dem April ähnlich, nie ohne die verdrüßlichsten Folgen abtritt.

Von da trug er sich verarmet – fern von jenem reichen Morgen, wo er neben dem reitenden Vater zu Fuße hergelaufen – zurück in die Stadt. Als er über die kalt wehende Brücke ging und nichts um ihn war als die öde dunkle Nacht: so flogen zwei dicke Wolken auseinander – der helle Mond lag wie eine Silberkugel einem weißen Wolkengebürge im Schoß, und der lange Strom wand[967] sich erleuchtet hinab. Auf dem Wasser kam etwas herabgeschwommen wie ein Hut und ein Ärmel. »Geht es durch die Brücke unter mir durch«, sagte Walt, »so nehm' ichs für ein Zeichen, daß auch mein Bruder so von mir dahin geht; stößt es sich an die Pfeiler, so bedeutet es etwas Gutes.« Er fuhr zusammen, da es unten wieder hervorkam; endlich fiel ihm ein, daß wohl gar ein ertrunkener Mensch unter ihm ziehen könne, ja Vult selber. Er sprang herunter ans Ufer herum, wo sich das schwimmende Wesen in eine Bucht voll Buschwurzeln verfangen hatte. Mühsam und zitternd hob er mit seinem Stabe einen leeren Ärmel, dann noch einen und darauf gar noch einige auf, bis er sehr sah, daß das Ganze nichts sei als eine ins Wasser geworfene, von der Jahrszeit abgedankte – Vogelscheuche.

Aber ein Schauder dauert länger als sein Anlaß oder Irrtum; er ging, noch sorgend für den Bruder, in dessen Wohngasse, als seine Flöte schon von ferne herauftönte und wie die Flut alle die offnen rauhen Klippen der Welt mit einem weichen Meer zudeckte. Der elende November, der herrnhutische Wirt, die Vogelscheuche und die leere Ebbe des Lebens gingen nun unter in schönen Wogen. Walt trat, weils finster war – denn am Tage schauete er nur die lange Gasse hinab –, dicht vor Vults Haus, obwohl in die Monds- Schatten-Seite. Er drückte den Türdrücker wie eine Hand, weil er wußte, wie oft ihn die brüderliche mußte angefaßt haben. Vult, dies merkte er aus dem Schatten und dem Lichtschimmer gegenüber, mußte mit dem Notenpulte nah' am Fenster stehen. Als wieder ein langer Wolkenschatten die Gasse heraufflog: schritt er querüber und guckte hinauf und sah hinter dem erleuchteten Notenpulte das so lange begehrte Gesicht; und weinte bitter. Er ging an ein großes rotes Tor seitwärts, worauf Vults Schattenriß, aber greulich auseinandergezogen wie ein angenagelter Raubvogel, hing und küßte etwas vom Schatten, aber mit einiger Mühe, weil sein eigner viel verdeckte.

Gern wär' er jetzt zu ihm hinaufgegangen mit der alten Bruder-Brust an sein Herz; aber er sagte: »Blies' ich selber droben, o so weiß ich alles wohl – nein, es gäbe für mich kein fremdes Herz; aber er ist fast immer das Widerspiel seines Spiels und oft fast[968] hart, wenn er sehr weich dahinflötet. – Ich will ihn in seiner Geister-Lust nicht stören, sondern lieber manches zu Papier bringen und morgen schicken.«

Er tats zu Hause, die Flötentöne des Bruders fielen schön in das Rauschen seiner Gefühle ein – er versiegelte einen geistigen Sturm. Er legte dem Sturm zwei Polymeter über den Tropfstein bei, dessen Säulen und Bildungen bekanntlich aus weichen Tropfen erstarren.


Erster Polymeter


Weich sinkt der Tropfen im Höhlen-Gebirge, aber hart und zackig und scharf verewigt er sich. Schöner ist die Menschen-Träne. Sie durchschneidet das Auge, das sie wund gebiert; aber der geweinte Diamant wird endlich weich, das Auge sieht sich um nach ihm, und er ist der Tau in einer Blume.


Zweiter


Blick' in die Höhle, wo kleine stumme Zähren den Glanz des Himmels und die Tempelsäulen der Erde spielend nachschaffen. Auch deine Tränen und Schmerzen, o Mensch, werden einst schimmern wie Sterne und werden dich tragen als Pfeiler.

Vult antwortete darauf: »Mündlich das übrige, Lieber! Wie mich unser so wacker gefödertes Schreiben freut, weißt Du besser als ich selber.« – »So hol' ihn der Henker«, sagte Walt, »ich habe mehr eingebüßt als er, denn ich lieb' ihn ganz anders.« Er war nun so unglücklich, als es die Liebe auf der Erde sein kann. Er webte – ganz entblößt von Menschen und Geschäften – seinen Roman fort, als das einzige dünne leichte Band, das sich noch aus seiner Stube in die brüderliche spannen ließ.

An einem Abende, als der ausgewachsene reife Mond gar zu hell und lösend schien, bedacht' er, ob es denn nicht schicklich sei, ordentlich Abschied zu nehmen. Er schrieb folgendes Briefchen:

»Empfange mich nicht Übel, wenn ich diesen Abend um 7 Uhr komme. Wahrlich, ich nehme nur Abschied; alles wird auf der Erde ohne Abschied auseinandergestürmt; aber der Mensch[969] nimmt seinen von einem Menschen, wenn er kann, wenn kein Meer-Sturm, wenn kein Erdbeben die Seelen-Nächsten plötzlich zerwirft. Sei wie ich, Vult; ich will Dich nur wiedersehen und dann nicht länger. Antworte nur aber nicht; weil ich mich fürchte.«

Er bekam auch keine Antwort und wurde noch furchtsamer und trauriger. Er ging abends, aber ihm war, als sei der Abschied schon vorbei. In Vults Stube war Licht. Welche Bürde trug er die Treppe hinauf, nicht um sie oben abzuladen, sondern zu verdoppeln! Aber niemand sagte: komm herein! Das Zimmer war ausgeleert, die Kammertüre offen – auf einem Stalleuchter wollte ein sterbendes Licht verscheiden – die Bettstelle beherbergte, gleich einer Scheune, nur fatales Stroh – verzettelte Papier-Späne, Brief-Umschläge, zerschnittene Flöten-Arien bildeten den Bodensatz verlaufener Tage – es war das Gebeinhaus oder Gebeinzimmer eines Menschen.

Walt dachte im ersten Unsinn des Schreckens, Vult könne, wenn nicht damals, doch später, im Wasser gelegen sein, und griff alle Papier-Reliquien mit groß tropfenden Augen halb unbewußt zusammen. Auf einmal rief die baßstimmige Frau des Theaterschneiders herauf, wer droben umtrabe. »Harnisch«, versetzt' er. Da fuhr sie die Treppe herauf und schalt: das sei Harnischens Stimme nicht. Als sie ihn gar im Finstern sah – denn er hatte das sterbende Licht getötet, weil jede Nacht besser ist, so wie der Tod besser als Sterben –, so mußt' er sich mit der Theaterschneiderin in ein anzügliches Hand-, nämlich Wortgemenge über seine Diebs-Tendenzen einlassen und zuletzt über sein Lügen. Denn er hatte sich in der Eile für Vults dasigen Bruder ausgegeben und doch gefragt, wohin Vult gekommen sei.

Verworren und gescholten wanderte er seiner Stube zu und schlich auf den Treppen voll Lichter und Leute – der Hofagent gab einen tanzenden Tee – gebückt hinauf.

Da fand er sein Zimmer aufgetan und einen Mann darin mit Hämmern arbeitend, um sich gut einzurichten in seiner neuen Wohnung. Es war Vult.

»Erwünschter«, sagte Vult und nagelte an einer Theaterwand[970] fort. »Aber guten Abend! Erwünschter, meint' ich nämlich, kann mir nichts kommen, als du endlich kommst. Schon seit Schlag sieben vexier' ich mich ab, um alles aufs beste aufzustellen und etwa so einzurichten, daß keiner von uns nachher brumme oder grunze; unterstütze mich aber dabei, bei der gemeinschaftlichen Einrichtung, und hilf! – Du siehst mich so an, Walt?« –

»Vult? – Wie? – Sprich nur!« sagte Walt. »Es könnte doch etwas Himmlisches sein! Und sei nur von Herzen willkommen!« Hier lief er mit Kuß und Umhalsen an ihn; Vult konnte aber, da er in der einen Hand den Nagel hielt, in der andern den Hammer, nichts dazu ablassen als Gesicht und Hals und antwortete: »Die Hauptsache ist wohl, daß du jetzt ein vernünftiges Wort darüber hören lässest, wie die Sachen zu traktieren sind für beiderseitige Lust. Denn ist einmal alles festgenagelt: so änderts der Mensch ungern. Mich deucht aber, so besitzest und beherrschest du gerade das eine Fenster und fast drüber, und ich das andere; ein drittes fehlt.«

»Ich weiß wahrlich nicht, was du vorhast, aber mache nur alles und sage dann, was es ist«, sagte Walt. »So muß ich dich gar nicht verstehen«, versetzte Vult, »oder du mich nicht. Solltest du kein Briefchen von mir erhalten haben?« sagte Vult. – »Nein«, sagte er.

»Ich meine das heutige«, fragte jener fort, »worin ich schrieb, ich würde dein Schweigen für ein Ja auf meine Bitte nehmen, daß wir doch möchten zusammen wie ein Vögelpaar ein Nest oder Quartier bewohnen, dieses nämlich? Wie?« – »Nichts (sagte Walt). Aber du willst dies? O warum traut' ich denn deinem Gemüte weniger? Gott züchtige mich dafür! O wie bist du!«

»In diesem Falle muß ich das Blatt noch in der Tasche tragen«, versetzte Vult und zog es hervor; »zuvörderst müssen wir aber unsern Stuben-Etat für den Winter ins reine und aufs trockne bringen; denn, Freund, leichter verträgt sich ein Simultaneum von Religionsparteien in einer Kirche als eines von Zwillingen in einer Stube, wie sie denn schon als kleine Kraken nicht einmal im Mutterleibe es ein Jahr lang ausdauern, sondern sich sondern. Mein Wunsch ist allerdings, daß die Feuermauer, die ich zwischen uns Flammen gezogen – und die Bühnenwand langt zum Glück[971] so nett –, uns körperlich genug abtrenne, um uns nicht geistig zu trennen. Die Scheidewand ist auf deiner Seite mit einer schönen Reihe Paläste übermalt, auf der meinigen ist ein arkadisches Dorf hingeschmiert, und ich stoße nur dieses Palast-Fenster auf, so seh' ich dich von meinem Schreibtische an deinem. Reden können wir ohnehin durch die Mauer und Stadt hindurch.«

»Das ist ja köstlich«, sagte Walt.

»Wir arbeiten dann in unserm Doppel-Käfig am Hoppelpoppel Tag und Nacht, weil der Winter für Autoren und Kreuzschnäbel die beste Zeit zum Brüten ist, und wir darin und die schwarze Nieswurz (was sind wir anders als Nieswurz der Welt?) im Froste blühen.«

»O herrlich«, sagte Walt.

»Denn ich muß leider bekennen, daß ich bisher aus einer Ausschweifung in die andere, nämlich aus spaßhaften in reelle geraten und in der Tat wenig gegeben. So aber werden wir beide schreiben und dichten, daß wir rauchen; – nur für Bücher und Manuskripte wird gelebt, nämlich von Honorarien. – In 14 Tagen, mein guter Freund, kann schon ein sehr hübscher Aktenstoß an einen Verleger ablaufen vom Stapel.«

»O göttlich«, sagte Walt.

»Falls ein solches gemeinschaftliches Zusammenbrüten in einem Neste – ich als Tauber, du als Täubin – nicht am Ende einen Phönix oder sonst ein Flügel-Werk aussitzen kann, das sich vor der Nachwelt so gut sehen lässet, daß sie ihre Vorwelt fragt, wer beide Brüder waren, wie lang, wie breit, wie sie gegessen, genieset, und was die Gebrüder sonst für Sitten und Möbeln und Narrheiten gehabt; wenn das, sag' ich, nicht der Fall bei uns sein soll: so will ich nicht im Ernste gesprochen haben.«

»Ach du schöner Gott«, rief Walt mit Freudenblicken.

»Fressen will ich meine Zunge vor Hunger und, wie man von Bomben sagt, krepieren, crêper, wenn wir uns hier nicht lange vorher lieben, eh' wir uns zanken, kurz überhaupt nicht Sachen vorfallen, wovon in Zukunft ein Mehreres mündlich.« – »Bei Gott, du gibst mir neues Leben«, sagte Walt. »Hältst du es aber genehm«, sagte Vult und führte ihn in die Schlafkammer, »daß ich unsere[972] Bettstellen durch die spanische Wand – für die spanischen Schlösser der Träume – quer geschieden halte? Ich sehe sie aber mehr für einen alten Bettschirm an.«

»Du kennst darüber meine Grundsätze«, sagte Walt; »ich hielt es schon in frühern Jahren für unschicklich, nur mit einem Freunde gymnastisch zu ringen oder ihn zu tragen, es müßte denn aus Lebensgefahren sein.«

Darauf zeichnete ihm Vult den ganzen Weg und engen Paß vor, worauf er hereinkommen, ferner seine Zukunfts-Karten. Schon längst hab' er, sagt' er, zu ihm ziehen wollen, teils aus Liebe für ihn und den Hoppelpoppel, teils des halbierten Mietzinses halber, teils sonst. Neulich auf einem Spaziergange hab' er sich in die Gunst der guten Raphaela zurückgeschwungen, mit welcher er als mit einem Hebels-Langarm dann den Vater habe bewegt. Vor einer Stunde sei er mit der Theaterwand von Purzel und mit dem Koffer eingetroffen und habe den Stubenschlüssel im bekannten Mausloch gefunden. »Nun erbrich aber doch mein Schreiben«, beschloß er. Auf dem Umschlag stand: »An Hrn. Walt, abzugeben bei mir.«

Walt bemerkte nicht, daß auf dem Briefe neben Vults Siegel auch seines stand und daß es jener alte war, worin Vult ihm in der Zukunft das nächtliche Poltern, Türen-Zuwerfen seines Polter- oder Schmollgeistes voraussagt, um nachher entschuldigt zu sein, und den wir früher gelesen als Walt, oder vielmehr später46. Walt glaubte eilig, er meine eine von heute an zukünftige Zukunft, und sagte, dahin komm' es nicht; aber als Vult ihm am Datum zeigte, daß eine vergangne geschildert sei: so faßte der Notar seine Hände mit beiden fest, sah ihm in die Augen und fing mit langem Ton der Rührung an: »Vult! – Vult!« – Den Flötenspieler drückte es, daß er einige Tropfen in die eignen Augen, über die er mit den gefangnen Händen nicht hinfahren konnte, mußte treten lassen: »Nun«, fuhr er auf, »auch ich bin kein Kiesel; lasse mich aber auf mein Zimmer gehen und auspacken!« und fuhr hinter die Bühnenwand.

Er packte aus und stellte auf. Walt ging im seinigen auf und ab und erzählte ihm über die Stadt herüber seine bisherigen Versuche,[973] ihren Seelen-Tauf-Bund zu erneuern. Alsdann kam er wieder in den Verschlag und half ihm, sein Haus- oder Stubengeräte ordnen. Er war so hülf-fertig, so freundlich-tätig, er wollte dem Bruder so viel Platz aufdringen samt Fenster Licht und Möbeln, daß Vult heimlich sich einen Narren schalt, daß er ihm den eigensinnigen Wider stand in der Flitteschen Wechselsache zu hart nachgetragen. Walt hingegen stellte seinerseits wieder heimlich den Flötenspieler ins größte Glanzlicht, dafür daß er ihm zuliebe den Widerwillen gegen Raphaela ersticke; und nahm sich vor, alle schönen Züge desselben unbemerkt aufzuschreiben, um sie als Rezepte nachzulesen, wenn er wieder knurren wolle. Die Gütergemeinschaft und Stuben-Verbrüderung wurde auf die hellsten Grenzverträge zurückgebracht, damit man am Morgen gleich anfangen könnte, beisammen zu sein. Schön bemerkte Vult, man müsse innerlich dem Zorne recht viel Platz machen, damit er sich abtobe und totrenne an den Gehirnwänden; dann werde ja dem Menschen nichts leichter, als mit dem gestorbenen Wolf im Herzen ein weiches Lamm zu sein außen mit der Brust. Man könnte aber hier noch andere Bemerkungen machen, z.B.

– Die starke Liebe will für Fehler nur bestrafen und dann doch vergeben – – Wenn mancher von kleinen Beleidigungen der Freundschaft zu tief getroffen wird: so ist daran bloß eine hassende Denkungsart über alle Menschen schuld, die ihn dann in jedem einzelnen Falle ergreift und diesen zum Spiegel des Ganzen macht. – – Die höchste Liebe kennt nur Ja und Nein, keinen Mittelstand; kein Fegefeuer, nur Himmel und Hölle; – und doch hat sie das Unglück, daß sie Geburten der Stimmung und des Zufalls, die nur zu Vorhimmel und Vorhölle führen sollten, zu Pförtnerinnen von Himmels- und Höllentoren macht –

Beide kleideten voreinander die eigentümlichsten Gefühle in allgemeine Sätze ein. Aber als Vult hinter dem Schirme ins Bett einstieg, sagt er: »Versetze mir nichts darauf – denn ich stopfe mir eben die Ohren mit dem Kopfkissen zu –, aber ich glaube selber, ich hätte dich bisher noch besser lieben können.« – »Nein, ich dich«, schrie Walt.[974]

46

Bd. 11, S. 175–180.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 963-975.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Flegeljahre
Flegeljahre; Eine Biographie
Flegeljahre: Eine Biographie
Flegeljahre. Eine Biographie
Flegeljahre: Eine Biographie (insel taschenbuch)
Flegeljahre: Roman (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Klingemann, August

Die Nachtwachen des Bonaventura

Die Nachtwachen des Bonaventura

Erst 1987 belegte eine in Amsterdam gefundene Handschrift Klingemann als Autor dieses vielbeachteten und hochgeschätzten Textes. In sechzehn Nachtwachen erlebt »Kreuzgang«, der als Findelkind in einem solchen gefunden und seither so genannt wird, die »absolute Verworrenheit« der Menschen und erkennt: »Eins ist nur möglich: entweder stehen die Menschen verkehrt, oder ich. Wenn die Stimmenmehrheit hier entscheiden soll, so bin ich rein verloren.«

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon