[1047] Larven-Tanz
»Nachts werden wir uns sehen«, sagte Vult zu Walt am Morgen der Redoute – und ging mit diesem Vorgruße wie mit dem Entschleiern eines Schleiers davon. In der Einsamkeit brannte dem Notar der Tag zu hell für die schöne Nacht, woraus und wozu dieser Tag bestand. Unter dem Essen sehnte er sich nach dem Bruder, dessen leeres Gehäuse noch leerer wurde, weil er ihn abends antreffen sollte, ohne doch zu wissen in welcher Gestalt.
Walt ging in eine Larven-Bude und suchte lange nach einer Larve, welche einen Apollo oder Jupiter darstellte; er begreife nicht, sagte er, warum man fast nur häßliche vorstecke. Da Vult ihm geraten, erst um 11 Uhr in den vollen Saal zu kommen: so[1047] holte er im gemächlichen Anputzen sich aus jedem Kleidungsstück wie aus Blumenkelchen feinen Traum-Honig. – Das Ankleiden gerade in der Zeit des Auskleidens und das allgemeine späte Wachen und Lärmen der Stadt sowie des Hauses färbte ihm die Nachtwelt mit romantischem Scheine, besonders der Punkt, daß er eine Rolle in diesem großen Fastnachtsspiele hatte. Wie anders klingt das Rollen der Wagen, wenn man weiß, man kommt ihnen nach, als wenn man es hört, mit der Nachtmütze vor dem Bett-Brett stehend!
Da er aus dem Stübchen trat, bat er Gott, daß er es froh wieder finden möge; es war ihm wie einem ruhmdurstigen Helden, der in seine erste Schlacht auszieht. Mit häuslichem Gefühle, in der Doppelmaske des Bergknappen und Fuhrmanns gleichsam zu Hause zu sein und nur wie aus zwei Mansardenfenstern zu gucken, trug er sich wie eine Sänfte über die Gasse und konnte es kaum glauben, daß er so herrlich ungesehen und zweigehäusig mit allen Seelen-Rädern überall vorbeigehe, wie eine Uhr in einer Tasche. Durch einen Irrweg, der sein Leben verfolgte, trat er zuerst in das Punschzimmer ein, das er für den Tanzsaal hielt, worin Musik aus schicklicher Ferne schön-gedämpft eindringe Ihn wunderte nichts so sehr, als daß er seine Bergkappe, einfahrend in die schimmernde Baumannshöhle voll Figuren, nicht abzog. Als er sich kühn aus der Maske mit den Augen ans Fenster legte, fand er umhersehend nicht ohne Verwunderung viele nackte Angesichter, mit der abgeschundenen Maske in der einen Hand, in der andern mit einem Glas. Das allgemeine Schöpfen aus dem Gesundbrunnen oder Ordensbecher rechnete er zu den Ballgesetzen und verlangte sogleich sein Glas und darauf – weil eine Admiralsmaske sein Flügelmann und Muster war – noch eines. Wina sah er nicht, auch keinen Schein von Vult. Eine Ritterin vom Orden der Sklavinnen der Tugend ging gewandt umher und sah ihm sehr in die Augenhöhlen hinein. Endlich faßte sie seine Hand, machte sie auf und zeichnete ein H darein; da er aber von dieser Fern- oder Naheschreibekunst nichts wußte, drückte er ihre Hand mäßig, anstatt solche zu beschreiben.
Endlich geriet er, da er das hereinströmende Nebenzimmer[1048] prüfen wollte, in den wahren schallenden brennenden Saal voll wallender Gestalten und Hüte im Zauberrauch hinaus. Welch ein gebärender Nordschein-Himmel voll widereinanderfahrender zickzackiger Gestalten! Er wurde dichterisch erhoben, da er, wie bei einer auferstehenden Erdkugel am Jüngsten Tage, Wilde, alte Ritter, Geistliche, Göttinnen, Mohren, Juden, Nonnen, Tiroler und Soldaten durcheinander sah. Er folgte lange einem Juden nach, der mit herausgeschnittenen Schuldforderungen aus dem Reichs-Anzeiger behangen war, und las ihn durch, dergleichen einen andern, welcher die Warnungstafeln des fürstlichen Gartens, an passende Gliedmaßen verteilt, umhatte. Von einer ungeheuren Perücke voll Papilloten, welche der Träger abwickelte und austeilte, nahm er auch seine an und fand nichts darin als einen gemeinen Lobspruch auf seine bezaubernden Augen.
Am meisten zog ihn und seine Bewunderung ein herumrutschender Riesenstiefel an, der sich selber an hatte und trug, bis ein altväterischer Schulmeister mit dem Bakel ihn so kopfschüttelnd ernst und zurechtweisend ansah, daß er ganz irre wurde und sich selber an sich und an seinem Fuhrmanns-Hemde nach einem Verstoße umsah. Als der Schulmann dieses merkte, winkte und rügte er noch heftiger, bis der Notar, der ihm erschrocken in die dräuenden Augen geblickt, sich in die Menge einsteckte. Es war ihm etwas Fürchterliches, in die dunkle unbekannte Augenhöhle wie in die offne Mündung eines Geschosses hineinzuschauen und lebendige Blicke eines Unbekannten zu empfangen.
Noch hatte er weder Vult noch Wina gesehen; und ihm wurde am Ende bange, ob er auch in diesem Meere sie wie Perlen oder Inseln finde.
Auf einmal stellte sich eine Jungfrau mit einem Blumenkranz auf dem Kopfe vor ihn; aus dem Munde der Maske hing ein Zettel des Inhalts: »Ich bin die personifizierte Hoffnung oder Spes, die mit einem Blumenkranz auf dem Kopfe und einer Lilie in der rechten Hand abgebildet wird; mit dem linken Arm stützt sie sich auf einen Anker oder eine starke Säule. S. Damms Mythologie, neue Auflage von Levezow §. 454.« Walt, der anfangs in jeder Sache mit den dümmsten Gedanken geplagt war, wollte innerlich[1049] auf Wina raten, wäre die Gestalt nur feiner und weniger groß gewesen. Die Hoffnung drehte sich schnell um; eine verlarvte Schäferin kam und eine einfache Nonne mit einer Halbmaske und einem duftenden Aurikelstrauß. Die Schäferin nahm seine Hand und schrieb ein H hinein; er drückte die ihrige nach seiner Gewohnheit und schüttelte den Kopf, weil er glaubte, sie habe sich mit einem H unterzeichnen wollen. Plötzlich sah er die Halbmaske, nämlich das Halbgesicht der Nonne recht an, an der feinen, aber kecken Linie der Rosenlippen und am Kinn voll Entschiedenheit erkannt' er plötzlich Wina, welche bloß aus dem Dunkel mit sanften Augen-Sternen blickte. Er war mit der Hand schon auf dem Wege nach der Bergkappe, bis er sie nahe daran wieder in Maskenfreiheit setzte. »O wie selig!« sagt' er leise. »Und Sie sind die Mademoiselle Raphaela?« Beide nickten. »O was begehrt man denn noch in solcher geistertrunkenen Zeit, wenn man sich, verhüllt wie Geister ohne Körper, in elysischen Feldern wiedererkennt?«
Ein Läufer tanzte daher und nahm Raphaela zum Tanzen davon: »Glück auf, Hr. Bergknappe!« sagt' er entfliegend, daß Walt den Elsasser erkannte. Jetzt stand er eine Sekunde allein neben der ruhigen Jungfrau – die Menge war einen Augenblick lang seine Maske – Neu, reizend drang aus der Halb-Larve wie aus der Blütenscheide einer gesenkten Knospe die halbe Rose und Lilie ihres Gesichts hervor. – Wie ausländische Geister aus zwei fernen Weltabenden sahen sie einander hinter den dunklen Larven an, gleichsam die Sterne in einer Sonnenfinsternis, und jede Seele sah die andre weit entfernt und wollte darum deutlicher sein.
Da aber Walt in dieser Stellung Miene machte, als wollte er einige Jubiläen dieser schönen Minuten feiern und erleben: so fragte ihn Wina, als Spes forschend die Sklavin der Tugend vorüberführte, ob er nie tanzte. Sogleich wurde er in den Tanz- Sturm geweht und half wehen, indem er tanzte wie die Römer, bei welchen nach Böttiger das mimische Tanzen in nichts bestand als in Bewegung der Hände und Arme. Mit den Füßen ging er feurig den Walzer bis zum Rastzeichen der Waage, wo der fliegende[1050] Schwarm hintereinander sich anlegte als Stand-Herde. Indes glaubt' er, er flöge hinter einem mit Sommervögeln fliegenden Sommer. Wie ein Jüngling die Hand eines berühmten großen Schriftstellers zum ersten Male berührt: so berührte er leise, wie Schmetterlingsflügel, wie Aurikeln-Puder, Winas Rücken und begab sich in die möglichste Entfernung, um ihr lebenatmendes Gesicht anzuschauen. Gibt es einen Ernte-Tanz, der die Ernte ist; gibt es ein Feuerrad der liebenden Entzückung: Walt, der Fuhrmann, hatte beide. Da er aber keinen Fuß bewegen konnte ohne die Zunge: so war der Tanzsaal nur sein größerer Rednerstuhl; und er schilderte ihr unter dem Tanz: wie da sogar der Körper Musik werde – wie der Mensch fliege und das Leben stehe – wie zwei Seelen die Menge verlieren und einsam wie Himmelskörper in einem Ätherraum um sich und um die Regel kreisen – wie nur Seelen tanzen sollten, die sich lieben, um in diesem Kunst-Schein harmonischer Bewegung die geistige abzuspiegeln. Als sie standen und er die Redoute mit ihrem tanzenden Sturmlaufen übersah, so sagte er: »Wie erhaben sehen die Mäntel und großen Hüte der Männer aus, gleichsam die Felsenpartie neben der weiblichen Gartenpartie! Ein Ball en masque ist vielleicht das Höchste, was der spielenden Poesie das Leben nachzuspielen vermag. Wie vor dem Dichter alle Stände und Zeiten gleich sind und alles Äußere nur Kleid ist, alles Innere aber Lust und Klang: so dichten hier die Menschen sich selber und das Leben nach – die älteste Tracht und Sitte wandelt auferstanden neben junger – der fernste Wilde, der feinste wie der roheste Stand, das spottende Zerrbild, alles, was sich sonst nie berührt, selber die verschiedenen Jahreszeiten und Religionen, alles Feindliche und Freundliche wird in einen leichten, frohen Kreis gerundet, und der Kreis wird herrlich wie nach dem Silbenmaß bewegt, nämlich in der Musik, diesem Lande der Seelen, wie die Masken das Land der Körper sind. – Nur ein Wesen steht ernst, unbedeckt und unverlarvt dort und regelt das heitere Spiel.« – Er meinte den Redoutenmeister, den er mit einem nackten kleinen Gesicht und Kopfe in einem Mantel ziemlich verdrüßlich achtgeben sah.
Wina antwortete leise und eilig: »Ihre Ansicht ist selber Dichtkunst.[1051] So mag wohl einem höhern Wesen die Geschichte des Menschengeschlechts nur als eine längere Ball-Verkleidung erscheinen.« – »Wir sind ein Feuerwerk«, versetzte Walt schnell, »das ein mächtiger Geist in verschiedenen Figuren abbrennt«, und fuhr in seinen eckigen Walzer hinein. Je länger er ging, bis er stand, je mächtiger pries er die Frühlinge, die im Tanzflug ihm duftend begegneten. »O dürfte ich mich heute für die schönste Seele opfern, dann wär' ich die glücklichste«, sagt' er. Die Hoffnung (Spes) stand ihm überall zur Seite, wenn er sprach. Die Nonne Wina, eine sanfte Taube, noch dazu mit dem Ölblatt im Munde, bemerkte gar nicht, daß er ungestüm spreche, und schien sich aus Kühnheit über Mißdeutung fast so leicht wegzusetzen als er aus Unwissenheit.
Heute erschien sie ihm ganz vollendet, wiewohl er bisher jedes letztemal geglaubt hatte, er überschaue ihren ganzen weiten Wert; wie der Mond schon vorher, eh' er mit vollem Lichte über uns hängt, uns als eine vollendete Scheibe aufzugehen scheint.
Nach dem Ende des deutschen Tanzes ersuchte er sie – da ihm ihre Nachsicht allmählich zu einer Ehrenpforte seiner Kunst aufwuchs – gar um einen englischen, bloß damit er recht oft ihre Hand fassen und recht lange den guten Lippen und Augen gegenüberstehen könnte, ohne aufspringen zu müssen. Sie sagte leise: »Ja!« –
Noch leiser hört' er seinen Namen; hinter ihm stand Spes und sagte: »Gehe gleich durch die große Saaltüre und siehe links draußen umher.« Es war Vult. Erfreuet fand er unter Unbekannten seinen lieben Bekannten wieder, den er auf seiner elysischen Insel herumführen konnte. Er ging hinaus; Spes ins fünfte Kabinett; draußen winkte sie ihm aus einer Türe hinein. Walt wollte den Bruder umarmen, aber dieser fuhr nach beiden Türschlössern: »Bedenke das Geschlecht unserer Masken!« und schloß zu. Er warf seine Larve weg, und eine seltsame heiße Wüsten-Dürre oder trockne Fieberhitze brach durch seine Mienen und Worte. »Wenn du je Liebe für deinen Bruder getragen«, begann er mit trockner Stimme und nahm den Kranz ab und lösete das Weiberkleid auf, »wenn dir die Erfüllung eines innigsten Wunsches[1052] desselben etwas gilt, dessen Wichtigkeit du 24 Stunden später erfährst; – und ist es dir unter deinen Freuden nicht gleichgültig, ob er die kleinsten oder größten haben soll, kurz wenn du eine seiner flehentlichsten Bitten erhören willst: so ziehe dich aus; dies ist die halbe; ziehe dich an und sei die Hoffnung, ich der Fuhrmann; dies die ganze.«
»Lieber Bruder«, antwortete Walt erschrocken und ließ den im langen Erwarten geschöpften Atem los, »darauf kann ich dir, wie sich von selbst versteht, nur zur Antwort geben: mit Freuden.«
»So mache nur schnell«, versetzte Vult, ohne zu danken. Walt setzte hinzu, sein feierlicher Ton erschrecke ihn beinahe, auch fass' er den Zweck des Umtauschs wenig. Vult sagte, morgen werd' alles heiter entwickelt, und er selber sei gar nicht verdrüßlich, sondern eher zu spaßend. Unter dem wechselseitigen Entpuppen und Verpuppen fiel Walt auf den Skrupel, ob er aber als Maskendame mit Wina, einer Dame, den versprochenen Englischen tanzen könne: »O, ich freue mich so sehr darauf«, sagte er dem Bruder; »unter uns, es ist die allererste Angloise, die ich in meinem Leben tanze; aber auf mein heutiges Glück und auf die Maske muß ich ein wenig rechnen.« Da schossen auf Vults dürrem Gesicht lebendige Mienen auf. »Himmel, Hölle«, sagte er, »ebensoleicht nach dem Takte will ich niesen, oder die Arme zurückstrecken und meine Flûte traversiere hinten anlegen, als, was du vorhast, nachtun. Deine Walzer bisher, nimm nicht die Nachricht übel, liefen als gute mimische Nachahmungen, teils waagrechte des Fuhr-, teils steilrechte des Bergmanus, im Saale durch, aber einen Englischen, Freund! und welchen? Ein teuflischer, nicht einmal ein irländischer wirds. Und erwägst du deine Mittänzerin, die ja schamrot und leichenblaß wird einsinken als eine Ritterin von trauriger Gestalt, als deine leidtragende Kreuzträgerin, sobald du nur stockst, plumpst, drunterfährst als Schwanzstern? – Aber dies ist nun alles so herrlich zu schlichten, als ich eben will. Der Pöbel soll nun eben sehen, daß der Fuhrmann sich entlarven und aus dem Tanz Ernst machen kann. Denn ich tanze in deiner Maske die Angloise. Sogar in Polen galt ich für einen Tänzer; geschweige hier, wo nichts von Polen tanzt als der Bär.«[1053]
Walt blieb einige Minuten still, dann sagte er: »Die Dame, wovon ich meinte, ist Wina Zablocki, der ich die Mühe bisher gemacht haben soll. Aber da sie meiner Maske den Tanz versprochen, wie willst du mich und den Wechsel entschuldigen bei ihr?« – »O dies ist eben unser Triumph (sagte Vult); aber du sollst nicht eher erraten, wie ich es mache, als morgen.« – Darauf entdeckte er ihm, er habe heute im Pharao so viel gewonnen, daß er durchaus ein Goldstück als Stückwerk zum Zerstücken von ihm annehmen müsse, wäre es auch nur, damit er unter den Zuschauern etwas zu tun habe, im Magenzimmer; dabei empfahl er ihm, sich als Spes mit keiner weiblichen Maske einzulassen, da aus einer guten Hoffnung leicht die andere werde.
Walts Abendstern trat allmählich wieder ins Vollicht, und als er Vulten die Halbbüste anlegte und ihm ins sehr ernste Gesicht und Auge sah, so sagte er heiß: »Sei froher! Freuden sind Menschenflügel, ja Engelsschwingen. Ich bin nur heute zu sehr von allem berauscht, als daß ich dir meinen Wunsch fein genug ausdrücken könnte, wie du noch mehr lieben solltest als mich.« –
»Liebe«, versetzte Vult, »ist, um in deiner Flötensprache zu reden, ewig ein Schmerz, entweder ein süßer oder ein bitterer, immer eine Nacht, worin kein Stern aufgeht, ohne daß einer hinter meinem Rücken untertaucht – Freundschaft ist ein Tag, wo nichts untergeht als einmal die Sonne; und dann ists schwarz, und der Teufel erscheint. –
Aber ernsthaft zu sprechen, die Liebe ist ein Paradies- und Spaßvogel – ein Phönixvogel voll weicher Asche ohne Sonne ist zwar weiblichen Geschlechts, hat aber, wie die Ziege, Hörner und Bart, so wie wieder deren Ehemann wahre Milch hat54. Es ist beinahe einerlei, was einer über die Liebe sagt oder einwirft; denn alles ist wahr, zu gleicher Zeit. – Hiermit setze ich dir den Blusenkranz auf, und verkleide dich in das, was du hast, die Spes. Gehe aber durch meine Türe in den Saal, wie ich durch deine sieh zu, schweige still und trinke fort!«
Walten kams beim Eintritt vor, als sehe jeder ihm den Larventausch[1054] an und kundschafte seinen Kern hinter der zweiten Hülse leichter aus als hinter der ersten. Einige Weiber merkten, daß Hoffnung hinter den Blumen jetzt blonde Haare statt der vorigen schwarzen trage, maßen es aber der Perücke bei. Auch Walts Schritt war kleiner und weiblicher, wie sichs für Hoffnungen geziemt.
Aber bald vergaß er sich und Saal und alles, da der Fuhrmann Vult ohne Umstände Wina, die jeder kannte, an die regierende Spitze des englischen Tanzes stellte und nun zum Erstaunen der Tänzerin mit ihr einen Tanzabriß künstlich entwarf und, wie einige Maler, gleichsam mit dem Fuße malte, nur mit größeren Dekorationsstrichen. Wina erstaunte, weil sie den Fuhrmann Walt vor sich zu haben glaubte, dessen Stimme und Stimmung Vult wider Walts Voraussetzung hinter der Larve wahrhaft nachspielte, damit er nicht etwa als Lügner befunden werde, der sich für den Notarius nur ausgebe.
Spät am Ende des Tanzes ließ Vult im eiligen Händereichen, im Kreuzen, im fliegenden Auf- und Ableiten sich immer mehrere polnische Laute entwischen – nur Hauche der Sprache – nur irre, aufs Meer verwehte Schmetterlinge einer fernen Insel. Wie ein seltner Lerchengesang im Nachsommer klang Winen diese Sprache herab. Freudenfeuer brannten hinter ihrer halben Larve. Wie sie aus der einsilbigen Angloise in den sprachfähigen Walzer sich hinübersehnte, weil sie ihm ihr Erstaunen und Erfreuen gern anders als mit frohen Blicken sagen wollte, sahen seine, die keine frohen waren.
Es geschah. Aber das zuwehende Lob seiner so lange bedeckten Talente blätterte wieder eines auf, seine Bescheidenheit. Er habe, sagte er von sich in den besten Polonismen, so wenig Welt, so viel Einfalt wie wenig andere Notarien und heiße mit Recht Gottwalt, nämlich Gott walte! Doch sein Herz sei warm, seine Seele rein, sein Leben leise dichtend; und er nehme, wie er vorhin im ersten Walzer gesagt, den Larventanz im Erdensaal gern und froh vom Länderer und Schäferballett an bis zum Waffen- und Totentanz.
Da jetzt der zweite Teil der Musik in jene sehnsüchtige Überfülle,[1055] wie in tiefe Wogen, einsank, welche gewaltsamer als alle Adagios den innersten Boden der Sehnsucht heiß aus tiefem Meer aufhebt – und da die Menschen und die Lichter flogen und wirbelten – und das weite Klingen und Rauschen die Verhüllten wieder in sich selber einhüllte, so sagte Vult im Fluge, aber polnisch: »Mit großblätterigen Blumengewinden rauscht die Lust um uns. Warum bin ich der einzige hier, der unaufhörlich stirbt, weil er keinen Himmel und keine Erde hat, Nonne? denn du bist mir beides. Ich will alles sagen, ich bin begeistert zur Pein wie zur Lust – willst du einen Gottverlaßnen aus einem Gottwalt machen? O gib ein Zeichen, aber eines Worts! Nur der Zunge glaube ich mein Hochgericht; sie sei mein Schwert, wenn sie sich bewegt, Nonne!«
»Gottwalt«, sagte Wina erschüttert und schwerer als er dem Tanze folgend, »wie könnte eine Menschenzunge dies sein? – Aber dürfen Sie mich so quälen und sich?« – »Nonne«, fuhr er fort, »der Laut sei mein Schwert!« – »Harter«, antwortete sie mit leiser Stimme, »Sie foltern härter zum Schweigen als andere zum Reden.«
Jetzt hatt' er alles, nämlich ihr Liebes-Ja für seinen Scheinmenschen oder Rollenwalt, und lachte den wahren aus, der als Rolle und als Wahrheit noch bloße Hoffnung sei und habe; allein sein erzürntes Gemüt bequemte sich nun zu keinem Schattendank, sondern hartstumm tanzte er aus und verschwand plötzlich aus dem fortjauchzenden Kreise.
Lange hatte sich Spes mit lauter Segnungen einer Doppelwonne in der Nähe gehalten und sich und Wina zum besten Tänzer Glück gewünscht, und in der Meinung, ihr sei gesagt, was ihn abbilde, hatte er ihre himmelsvollen Blicke ganz auf sich bezogen. Zum Unglück schöpfte er eben im Trinkzimmer, als der langweilige englische Tanz ausging, auf dessen Ende er seine Anreden verschoben – Vult schwebte eben in der tanzenden Liebeserklärung, und Spes stand mit dem Blumenkranze auf dem Kopfe und dem Flatterzettel der Inschrift am Kinne leer-harrend da und mußte dem langen Walzer zusehen. Kurz vorher, ehe dieser schnell abbrach, kam die Sklavin der Tugend und zog Spesen in[1056] ein Nebenzimmer. Hundert der seltensten Ereignisse hoffte Spes. »So, kennen Sie mich nicht mehr?« fragte die Maske. »Kennen Sie mich denn?« fragte Spes.
»Machen Sie nur einen Moment die Augen zu, so bind' ich ihre Maske ab und meine dazu«, sagte sie. Er tats. Sie küßte ihn schnell auf den Mund und sagte: »Sie habe ich ja schon wo gesehen.« Es war Jakobine. In diesem Augenblick trat der General Zablocki durch eine zweite Tür hinein: »Ei Jakobine, schon wieder bei der Hoffnung?« sagte er und ging zurück. »Was meinte er damit?« sagte sie. Aber Walt lief erschrocken und halb nackt in den Saal und befestigte darin mit einiger Mühe die verschobene Maske wieder vor den bekränzten Kopf.
Wina und Vult waren nicht mehr zu finden; nach langem Suchen und Hoffen mußte er ohne Umtausch als Hoffnung nach Hause gehen. So schloß der Larventanz voll willkürlicher Verhüllungen endlich mit unwillkürlichen von größerer Schwere.
54 | Nach Bechstein und anderen Naturforschern hat der Bock so gut als der Amerikaner Milch, und das alte Sprichwort ist richtig. |
Ausgewählte Ausgaben von
Flegeljahre
|
Buchempfehlung
Nachdem im Reich die Aufklärung eingeführt wurde ist die Poesie verboten und die Feen sind des Landes verwiesen. Darum versteckt sich die Fee Rosabelverde in einem Damenstift. Als sie dem häßlichen, mißgestalteten Bauernkind Zaches über das Haar streicht verleiht sie ihm damit die Eigenschaft, stets für einen hübschen und klugen Menschen gehalten zu werden, dem die Taten, die seine Zeitgenossen in seiner Gegenwart vollbringen, als seine eigenen angerechnet werden.
88 Seiten, 4.20 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro