Nr. 28. Seehase

[761] Neue Verhältnisse


Am Morgen eilte der Notar mit Winas Brief zum Grafen, übergab aber nichts, weil vergoldete Wagen und Bediente an der Türe und deren Herren im Besuchszimmer standen; was hätte ich davon? fragt' er sich. »Ich komme wieder, wenn niemand darin ist«, sagt' er zum Bedienten, dem das wie eine Diebs-Erklärung klang.

Im Speisehause fand er auf dem Tischtuche das Wochenblatt und Klothars gedruckte Bitte darin, ein redlicher Finder soll' ihm seinen Brief wieder zustellen.

Am Tische hört' er, daß der General Zablocki seinen Koch ein Dienstjubiläum feiern lasse. Der Komödiant leitete die Feier aus dem Herzen des Generals, ein Offizier aus dessen Gaumen und Magen her; »der Jubelkoch«, fügt' er bei, »ist ihm so nahe wie eine Kompanie oder sein Schwiegersohn.« Walt lief wieder in die Villa des Grafen hinaus – Dieser aß eben bei dem General.

Zu erklären ist allerdings einer der keckesten Gedanken – die je Walten Sporen und Flügel angesetzt –, welcher ihm unter Klothars Gartentüre anflog, sobald man erwägt, daß er das Sonntags-Konzert noch im Kopfe haben mußte und im Herzen ohnehin. Daher ist es wohl nur ein Nebenumstand dabei – aber er trug mit bei –, daß der General der halbe Besitzer von Elterlein war und Gottwalt ein Linker. Gleichwohl wollt' er anfangs[761] sich erst mit seinem Bruder beraten, ob er angehe, der Gang; ließ es aber unterwegs, um ihn, hofft' er, abends mehr mit der Nachricht zu fassen und aufzurütteln, daß er ganz kühn beim polnischen General gewesen, um Winas Brief an dessen Schwiegersohn auszuliefern.

Sehr spät brach er dahin damit auf, um nicht ins Essen zu fallen. Auch sollte jeder Mensch gegen Abend – nämlich nie gegen Morgen, wo der Geist noch den Körper und das Gestern verdauet – mit Gesuchen und sich zu Großen kommen, welche er vielleicht alsdann halb betrunken und halb-menschlich, es sei vom Mittags-Essen oder Mittags-Trinken, zu finden hoffen darf. Auf dem Wege dahin wallete Gottwalts Herz wie ein angewehtes Blumenbeet bei dem Gedanken auf, daß er dem Hause zugehe, worin Wina so lange als Kind und Jungfrau gelebt. Auf der letzten Gasse mußt' er mit dem Plane der Übergabe ins Reine kommen. »Anders«, sagt' er sich, »kanns doch nicht gehörig delikat ausfallen, als wenn ichs so mache, daß ich mich beim General – denn der Graf ist doch nur Gast – ordentlich melden lasse, mich dann entschuldige und sage, daß ich dem Hrn. Grafen etwas in einem Seitenzimmer zu übergeben habe, dieser und seine Braut mögen nun dabeistehen oder nicht; und dabei seh' ich doch auch einmal einen General, ja einen polnischen.« Sehr sucht' er sich unterwegs keine andere Freude vorzuhalten als die, einen General zu hören. Drei Viertel-Stunden hatt' er einmal in Leipzig am Hotel de Baviére gelauert, um einen Ambassadeur einsteigen zu sehen. Denselben Durst hatte sein Herz nach dem Anblick eines preußischen Ministers. Dieses Triumvirat war ihm der Dreizack der Gewalt, der Feinheit und des Verstandes; feinere Turnüren, als die sind, womit dieser Staats-Trident guten Morgen, guten Abend und alles sagen werde (indes ohne Blumen), konnt' er nicht wohl für möglich halten, weil er glaubte, sie denen gleichsetzen zu können, womit Louis XIV. und Versailles auf die Nachwelt kamen. Nur drei Personen, gleichsam Kuriatier, stellt' er diesen drei Horatiern entgegen und sogar voraus – deren Gemahlinnen; oft ließ er besonders eine Ambassadrice durch seinen Kopf gehen, welche es war, eine russische,[762] dänische, französische, englische etc. – »Bei Gott«, sagt' er, »sie ist ganz Göttin sowohl in betreff der zartesten Ausbildung und Tugend als des feinsten Teints, Gesichts und Anzugs; – aber warum hab' ich armer Teufel noch keine Ambassadrice zu Gesicht bekommen?«

Endlich stand er vor dem Zablockischen Palast. – Die Auffahrt und das Ketten-Gehenke an Pfeilern waren neue Siebenmeilenstiefel für seine Phantasie; er freute sich auf die Nacht, wo er diese gespannte bange Stunde auf dem Kopfkissen frei und ruhig beschauen und behandeln werde. Er trat in den Palast, er sah rechts und links breite Treppen mit Eisengeländern – große Flügeltüren – sogar einen rennenden Mohr mit weißem Turban – geputzte Menschen gingen herab, heraus, hinein – Türen wurden oben auf- und zugemacht – Treppen berennt. Schwer wars für einen Notar, sich einen Menschen auf der Hausflur auszusuchen, dem die Bitte vorzutragen war, daß er zum General wolle.

Eine Viertelstunde stand er, hoffend, einer der Leute wende sich an ihn und frag' ihn und entwickle dann alles; – aber man lief vorüber. Zuletzt spazierte er frei in der Hausflur auf und nieder – einmal eine halbe Treppe hinan – hielt sich die größten Männer aus der Weltgeschichte vor, um einen lebendigen besser zu handhaben – und bracht' es endlich zu einer Frage nach dem General an ein Mädchen.

Sie wies ihn an den Portier. Der Himmel hat öfter eine Vorhölle als einen Vorhimmel – tröstet' er sich – vielleicht die ganze gelehrte Vorwelt hat schon auf ähnlichen Palast-Fluren geschwitzt. Eine Himmelstüre tat sich ihm auf; heraus trat ein ältlicher gepuderter verdrüßlicher Mann, der ein breites Gehänge über dem Leib und einen Stock mit einem schweren Silber-Giebel trug. Walt, ganz unvermögend, das lederne Bandelier für etwas anders zu halten als für ein Ordensband und den Portier-Stab für einen Kommando- und Generalstab und den Portier für den General, machte ohne viele Umstände einige Verbeugungen und näherte sich dem Türsteher höflich murmelnd.

»Das hilft alles nichts«, sagte der Portier, »gegenwärtig schlafen Exzellenz, man muß sich gedulden.« –[763]

– Aber niemand braucht aus Walts Verwechslung viel zu machen, wenn man soviel von der Welt gesehen, daß – keine möglich ist, – sondern daß jeder vornehme Inhaber eines Türhüters selber wieder einer ist, nur an einer höhern Türe, entweder an einer kaiserlichen, königlichen, fürstlichen Gnaden- oder an einer Falltüre, entweder als Klopfer, der das Hereinwollen, oder als Klingel, die das Hereinkommen ansagt, und jeder wie Janus als Schwellen-Gott ein anderes Gesicht gegen die Gasse kehrend, ein anderes gegen das Haus. – Sind manche gute Gemüter nur Portiers an blinden Toren: so stecken sie doch ihren Sperrgroschen von Proselyten des Tors so gut ein wie die schlimmsten, die wenigstens den Janustempel wie eine öffentliche Bibliothek gern öffnen.

Sehr rot trat der Notar in das lustige Domestikenzimmer, das Geißelgewölbe eines dürftigen Gelehrten. Bediente sind parasitische Menschen an Menschen, Dörfer, wo auf den Briefen die nächste Poststation angezeigt werden muß. Doch die Zablockischen waren gut gelaunt und schön-betrunken vom Küchen-Jubel; – Walt saß unbeunruhigt da. »Wo ist der Bonsoir, Freund?« fragte ein eintretender Lakai. Walt glaubte sich gemeint und den Abendgruß vermisset, nicht aber den Licht-Töter; er versetzte frisch: »Bon soir, mon cher!« In der Tat kam es endlich dahin, daß ein Bedienter vor ihm vorausging und er hinterdrein, durch Vorsäle voll langer Kniestücke – über glatte Zimmer weg – und endlich vor ein Kabinett, das der Bediente zwar auf-, aber erst zumachte, da er hinein war, bevor ers ihm auftat.

Der General, ein stattlicher, männlich-schöner, stark genährter, lächelnder Mann, fragt' ihn mit freundlicher Miene und Stimme, was Monsieur Harnisch wünsche. »Exzellenz, ich wünsche«, fing er an und hielt die Wiederholung des Zeitworts für Welt, »dem Hrn. Grafen von Klothar einen verlornen Brief zu übergeben, da ich ihn hier zu finden hoffe.« – »Wen?« fragte Zablocki. »Den Hrn. Grafen von Klothar«, versetzte Walt. »Wollen Sie mir den Brief vertrauen, so kann ich ihn sogleich übergeben«, sagte Zablocki. Der Notar hatte sich viel schönere Entwicklungen versprochen; jetzt lief alles fast auf nichts hin aus; dem Vater mußt'[764] er den Brief der Tochter abstehen und lassen. Er tats, da der Umschlag entsiegelt war, mit den feinen Worten: er bring' ihn so offen, als er ihn gefunden. Er wollte damit vielerlei leise andeuten – seine eigene Rechtschaffenheit, ihn nicht gelesen zu haben, sein Erwarten der Nachahmung und noch allerhand Gefühle. Der General steckte ihn, nach einem leichten Entzifferungsblick auf die Überschrift, gleichgültig ein und sagte, er habe soviel Schönes über seine Flöte gehört, er wünsche sie selber einmal zu hören. – Große sind ebenso vergeßlich als neugierig; doch konnt' es Zablocki auch tun, um reden zu hören.

Walten wars angenehm, zu berichtigen: »Ich wünschte«, sagt' er fein, »ich würde nicht verwechselt, oder vielmehr (fügt' er bei, da ihm das gerade einen zweiten, ganz entgegengesetzten Sinn geben wollte) ich könnt' es werden.« – »Ich verstehe Sie nicht«, sagte der General. Walt entdeckte ihm kurz, er sei aus dessen Elterleinischem Territorium gebürtig, und sein Vater sei der Schulz. Jetzt glaubte er an Zablocki den wahren menschenliebenden Menschen-Dulder ganz zu erkennen, als dieser sich des Schulzen, der so oft als ein Mauerbock sich an dessen Gerichtsstube die Hörner abgestoßen, vielmehr mit den freundlichsten Mienen und sogar der van der Kabelschen Erbschaft entsann, ja teilnehmend eine genauere Geschichte derselben zu hören begehrte. Die lieferte Walt gern, nett und heiß; indes halb schwindelte er vor Freude, wenn er von der Höhe und Spitze in die Dörfer hinuntersah, auf der er neben einem Großen stand und ihn so lange anreden und sich gut ausdrücken durfte. Mit Freuden hätt' er für ein so menschenliebendes Herz, das er nie im Verband eines Ordensbandes gesucht hatte, einen Zacken oder Stein aus der polnischen Krone ausgebrochen, oder diese für den schönen Kopf zugeschmolzen, um durch ein Präsent damit erkenntlich zu sein. In etwas drückt' er seine Liebe – weil er nichts Näheres hatte, die Blicke ausgenommen – streichelnd auf dem Kopfe eines Windhunds aus, der sich hochbeinig an seine Schenkel anpreßte.

»Haben Sie eine französische Hand?« fragte der General auf einmal und schob ihm ein Papier vor zu einem Probeschuß. Walt sagte: er verstehe es leichter zu schreiben, in mehr als einem[765] Sinn, als zu sprechen und verdank' es seinem Lehrer. Allein welchem Worte er unter so vielen Tausenden, die Gallien hat, das Schnupftuch zuwerfen sollte, das wußt' er schwer, da das Wort doch etwas vorstellen sollte. – »Was Sie wollen«, sagte endlich Zablocki. Er sann aber fort. »Das Vaterunser«, sagte jener. In der Geschwindigkeit konnt' ers unmöglich übersetzen.

»Vorzüglich«, fuhr der General fort, als jener noch nachdachte, »würd' ich auf rein französische Endbuchstaben sehen, dergleichen, wie Sie wissen, s, x, r, t, p sind.« Walt verstand die französische Benennung dieser Lettern nicht recht, aber sehr wohl das französische Camnephez23; Schomaker, der jahrelang keinen gallischen Dialog und Brief zu machen hatte – erstlich weil dazu stets eine zweite Person gehört, zweitens weil auch eine erste erforderlich ist, er aber gar nichts davon verstand –, dieser Kandidat hatte echt-französische Handschrift und Aussprache vermittelst dergleichen Kaufmannsbriefe und Reisediener zu einer so außerordentlichen Höhe hinaufgetrieben wie vielleicht, außer Hermes und einem zweiten Romancier, kein Autor von Gewicht ohne Stand. Und Walt hatte beides bei ihm erlernt.

»O vortrefflich!« sagte der General, als endlich jener Winas französische Adresse an Klothar probierend hinschrieb. »Recht gut ja! – Nun hab' ich ein ziemliches Paket französischer Briefe über einen Gegenstand auf meinen Reisen gesammelt – von verschiedenen alten und neuen Personen –, welche ich sehr gern in ein Buch abgeschrieben sähe, da sie sonst leicht sich verspringen. Wenn Sie denn täglich an dem Buche – mémoires éotiques mag es heißen – eine Stunde – hier in meinem Hause – schrieben....«

»Exzellenz«, stotterte Walt mit blitzenden rednerischen Augen, »wenn über den zärtesten Gegenstand kein Ja zart genug sein kann« – – »Gehts nicht?« fragte der General. – »O am besten«, versetzte jener, »und jede Minute.« – »Ich werde«, sagte Zablocki, »die Briefe zusammensuchen und Ihnen die Kopier-Stunde nächstens bestimmen lassen.« Darauf machte Zablocki den vornehmen Entlassungs-Bückling, Walt macht' ihn leicht[766] zurück und harrte lange auf weitern Verfolg, bis er endlich – da der General sich umstellte und durchs Fenster guckte – den Abschied, dessen Schnelle er schwer mit dem warmen Gespräche paaren konnte, herausbrachte durch Überlegung. Jetzt mußt' er etwas suchen, was ebenso schwer zu finden war als vorhin der Eingang, nämlich der Ausgang am glatten Kabinett. Keiner wollte vorstechen. Leise überstrich er mit den Händen die fugenlosen Wandtapeten, weil er sich schämte, zu fragen, wie er hereingekommen. Über drei Wände glitt er mit dem Bügel der Hand, bis er endlich in eine Ecke auf ein goldenes Kreuz einer Türe griff. Er dreht' es mit Vergnügen um, und es tat sich ein Wandschrank auf, worin Winas himmelblaues Konzert-Kleid lang und nahe niederhing. Staunend guckte er hinein und wollte noch lange davor erstaunen, als sich der General, der das Handstreicheln und Glätten vernommen, endlich umdrehte und ihn vor dem Schranke mit dem Schauen halten sah; »ich wollte hinaus«, sagt' er. »Das geht hier«, sagte Zablocki und öffnete eine Türe, wo das wirklich zu machen war.

Das Schicksal mag ihm absichtlich die kleine Schamröte auf seinen Sieges-Weg mitgegeben haben, um damit einigermaßen das Bewußtsein zu dämpfen, womit er, so mit Ehrenmedaillen und Bassas-Roßschweifen behangen, so mutig durch Zimmer und Haus marschierte, daß er sich auf der Straße mit einigen maß, die, wie er, zu Fuße kamen von Hof. Indes hatte er alle Welt lieb und verbarg sich am wenigsten, wie mancher dahin gehe, der ohne Schuld solche Erhebungen nie erlebe. Daraus messe die Welt ab, wie vollends ein dürftiger Leutnant, der Sonntags seine seidenen Beine unter der Hoftafel gehabt, um 4 1/4 Uhr, mit dem Kurial-Krätzer und der Champagner-Folie im Kopfe, nach Hause gehen mag, mit welchem Selbstbewußtsein, meint man; Julius Cäsar selber kann dem Ortshalter aufstoßen, und dieser wird bloß fragen: »Jul, aber woher kömmst denn du, wüste Fliege?«

Mit größter Sehnsucht, vor allen Dingen auf Vults Tisch einige schwache Zeichnungen der heutigen Krönungsstadt und Ehrenpforte zu legen, klopfte Walt an dessen Türe; sie war zu und mit Kreide stand daran: »Hodie non legitur.«[767]

23

Dieses Wort faßt die hebräischen Buchstaben in sich, die am Ende größer und anders geschrieben werden.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 761-768.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Flegeljahre
Flegeljahre; Eine Biographie
Flegeljahre: Eine Biographie
Flegeljahre. Eine Biographie
Flegeljahre: Eine Biographie (insel taschenbuch)
Flegeljahre: Roman (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Anonym

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Das chinesische Lebensbuch über das Geheimnis der Goldenen Blüte wird seit dem achten Jahrhundert mündlich überliefert. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Richard Wilhelm.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon