22. Zykel

[118] Ein Pfingsten, wie ichs jetzt beschreiben will, Albano, trifft man außer in der Apostelgeschichte wohl in keiner an als in deiner!

Er hatte bisher oft Lianens Krankengeschichte mit der Taubheit eines markigen feuerfesten Jünglings angehört, als einmal der Direktor es nach Hause brachte, daß die fromme Ministerin die Tochter am ersten Pfingsttage das Abendmahl empfangen lasse, weil sie besorge, der Tod halte solche für eine Erdbeere, die man pflücken müsse, ehe sie die Sonne beschienen. – Ach Albano sah nun schon den Tod unter dem Suchen mit der steinernen Ferse auf die bleichrote Beere tappen und sie ertreten. Und dann hatte diese Philomele ohne Zunge, weil sie bisher verstummen mußte, ihm wie einer Progne nur die gemalte Geschichte ihres schweren Daseins gesandt und nur die Pergamentblätter! – Alle liebenden Empfindungen gehen, wie Gewächse, bei gewitterhafter Luft des Lebens schneller in die Höhe; Albano fühlte zugleich ein weites tiefes Weh und eine quälende Fieber-Wärme in seinem vom Tode ausgehöhlten Herzen. – Auf eine sonderbare Art mengten sich bei seinem musikalischen und poetischen Phantasieren auf dem Österleinschen Flügel die geträumten Töne von Lianens Stimme und das tönende Weinen, die Harmonika, die sie spielen konnte und die er nie gehört, gleichsam als ihr Schwanengesang mit seinen Harmonien zusammen. Aber nicht genug: er schrieb sogar heimlich ein Trauerspiel (du gute Seele!), worin er alle seine zartesten und bittersten Gefühle mit nassen Augen auf fremde Lippen legte aber sie fürchterlich anfachte, indem er sie ausdrückte. – Jeder kann merken, daß er damit dem Schwätzer und Spione, dem Zufalle, entgehen wollte; aber nicht jeder merkt – etwas ganz Eigenes: in fremdem Namen dürf' er, glaubt' er, dem tiefen Schmerze eine heftigere Sprache geben, zu welcher er in seinem[118] vor so vielen stoischen klassischen Helden verschämt den Mut nicht hatte. So aber konnten die Klassiker nichts anfangen.

Das stille warme Schwärmen wuchs unter dieser bedeckenden heißen Glasglocke noch viel größer; nämlich dergestalt, daß er die Pflegeeltern rührend bat, ihn am ersten Pfingsttage zum heiligen Abendmahle zu lassen. Die Baufälligkeit der Dorfkirche, worin man es schwerlich ein Jahr später nehmen konnte, mußte für ihn so gut wie die körperliche für Liane sprechen. – Ewig wird den armen, durch Leiber und Wüsten zerteilten Menschenseelen die Sehnsucht bleiben, miteinander wenigstens zu gleicher Zeit dasselbe zu tun, zu einer Stunde Blicke an den Mond, oder Gebete über ihn hinauf (wie Addison erzählt); und so ist dein Wunsch, Albano, ein menschlicher, zarter, mit deiner unsichtbaren Liane zu einer Stunde an der Altarstufe zu knien und dann feurig und regierend aufzustehen nach der Krönung des innern Menschen! – Er hatte auf dem stillen Lande den Altar der Religion in seiner Seele hoch und fest gebauet, wie alle Menschen von hoher Phantasie; auf Bergen stehen immer Tempel und Kapellen.

Aber ich werde ihn nie früher in die Pfingstkirche begleiten als auf den Kirchturm. Gibt es etwas Trunkneres, als wenn er damals an schönen Sonntagen, sobald durch den weiten Himmel nichts als die schwere Sonne schwamm, zum Glockenstuhle des Turms aufstieg und, überdeckt von den brausenden Wellen des Geläutes, einsam über die tiefe Erde blickte und an die westlichen Grenzhügel der geliebten Stadt? – Wenn alsdann der Sturm des Klanges alles ineinander- und zusammenwehte; und wenn die Juwelenblitze der Teiche und das blumige Lustlager des hüpfenden Frühlings und die roten Schlösser an den weißen Straßen und die langsamen verstreueten Kirchleute zwischen dunkelgrünen Saaten und der um reiche Auen gegürtete Strom und die blauen Berge, diese rauchenden Altäre der Morgenopfer, und der ganze ausgedehnte Glanz der Sichtbarkeit ihn dämmernd überfüllte und ihm alles wie eine dunkle Traum-Landschaft erschien: o dann ging sein inneres Kolosseum voll stiller Götterformen der geistigen Antike auf, und der Fackelschein der Phantasie33[119] glitt auf ihnen als ein spielendes wandelndes magisches Leben umher – – und da sah' er unter den Göttern einen Freund und eine Geliebte ruhen, und er glühte und zitterte.... Dann schwankten die Glocken bang-verstummend aus – er trat vom hellen Frühlinge in den dunkeln Turm zurück – er heftete das Auge nur an die leere blaue Nacht vor ihm, in welche die ferne Erde nichts heraufwarf als zuweilen einen verwehten Schmetterling, eine vorbeikreuzende Schwalbe und eine vorüberwogende Taube – der blaue Schleier des Äthers34. flatterte tausendfach gefaltet über verhüllten Göttern in der Weite – o dann, dann mußte das berückte Herz verlassen ausrufen: ach wo find' ich in den weiten Räumen, in dem kurzen Leben die Seelen, die ich ewig liebe und so innig? – Ach du Lieber, was wird denn schmerzlicher und länger gesucht als ein Herz? Wenn der Mensch vor dem Meere und auf Gebirgen und vor Pyramiden und Ruinen und vor dem Unglücke steht und sich erhebt, so strecket er die Arme nach der großen Freundschaft aus. – Und wenn ihn die Tonkunst und der Mond und der Frühling und die Freudentränen sanft bewegen, so zergeht sein Herz, und er will die Liebe. – Und wer beide nie suchte, ist tausendmal ärmer, als wer beide verlor. – –

Lasset uns jetzt in die Pfingstkirche treten, wo der tiefe Strom seiner Phantasie zum ersten Male in seinem Leben übertrat und sein Herz weit fortriß und damit in einem neuen Bette brausete; ein physisches Gewitter hatte sich in diesen Strom ergossen. Schon am Morgen stand der schwarze Pulverturm einer Gewitterwolke stumm neben der heißen Sonne und wurde an ihr glühend, und nur zuweilen entfiel einer fernen fremden Wolke unter dem Gottesdienste ein Schlag auf die Feuertrommel; aber als Albano vor den Altar mit erhobnen verklärten Gefühlen trat und als er seine Liebe für Liane nur in ein inniges Beten für sie verkleidete und in ein Gemälde ihrer heutigen Andacht und ihrer blassen Gestalt im frommen dunkeln Braut-Putze und als er sanft[120] fühlte, jetzt sei seine gereinigte geheiligte Seele dieser schönen werter: so rückte das Gewitter mit allen seinen spielenden Kriegsmaschinen und Totenorgeln35 von der Lindenstadt herüber und trat bewaffnet und heiß über die Kirche. – Aber Albano, im Bewußtsein einer heiligen Begeisterung, erschrak nicht, sondern er dachte, schon als er das ferne Rollen der fallenden Lauwine hörte, bloß an Lianen und an das Einschlagen in die Kirche zu Lindenstadt – und nun als die Sonne den Pulverturm der Wetterwolke über ihm mit ihren heißen Blicken entzündete und in tausend Blitze und Schläge zersprengte: dann jagte ihm seine von den Alten genährte Achtung für den Donnertod die schreckliche Vermutung ins Herz, Liane sei ihm nun gestorben in der Glorie der verklärten Frömmigkeit. – O dann mußt' er ja auch glauben, daß ihn jetzt die Schwinge des Blitzes über die Wolken schlage. Und als lange Blitze um die Heiligen und die Engel des Altars loderten und als das zitternde stärkere Singen und das Wetterläuten der vertrauten Glocken und die vollströmende Orgel sich mit dem zusammenbrechenden Donner vermischte und er im betäubenden Getöse einen hohen feinen Orgelton vernahm, den er für den ungehörten der Harmonika hielt: da stieg er vergöttert auf dem Triumph- und Donnerwagen neben seiner Liane ein der Theatervorhang des Lebens und die Bühne brannten unter ihnen ab – und sie flogen verbunden und leuchtend in den kühlen reinen Äther weiter hinauf....

Aber die zwölfte Stunde vertrieb diese Geistererscheinungen und das Gewitter – Albano trat heraus in einen blauern kühlern luftigen Himmel – und die glänzende Sonne lachte freundlich die erschrockene Erde an, der noch die hellen Tränen in allen ihren Blumenaugen zitterten. – Da nun Albano nachmittags noch den friedlichen Durchzug des Donners durch Lianens Stadt vernahm: so wurde durch den Glauben an ihr neuversichertes Leben – und durch das sanfte Mattgold der ausruhenden Phantasie – und durch die heilige Stille der bekehrten Brust – und durch die innigere Liebe aus allen Gegenden seiner Seele ein abendrotes magisches Arkadien – – und nie betrat ein Mensch ein holderes.- –[121]

33

Anspielung auf die Fackeln, vor denen man das Kolosseum und die Antiken – und die Gletscher, die beides sind – magischer glänzen sieht.

34

Wie die Himmelskönigin, Juno, von den Alten immer blau verschleiert wird. Hagedorn über die Malerei.

35

Eine alte Maschine, die viele Schüsse auf einmal tut.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 118-122.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Titan
Sämtliche Werke, 10 Bde., Bd.3, Titan
Titan (insel taschenbuch)
Titan. Bd. 1/2
Titan: A Romance from the German (German Edition)
Titan, Volumes 1-2 (German Edition)

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon