§ 43
Witz, Scharfsinn, Tiefsinn

[171] Ehe wir den ästhetischen Witz, den in engerem Sinne, näher bestimmen, müssen wir den Witz im weitesten, nämlich das Vergleichen überhaupt betrachten.

Auf der untersten Stufe, wo der Mensch sich anfangt, ist das erste leichteste Vergleichen zweier Vorstellungen – deren Gegenstände seien nun Empfindungen, oder wieder Vorstellungen, oder gemischt aus Empfindung und Vorstellung – schon Witz, wiewohl im weitesten Sinn; denn die dritte Vorstellung, als der Exponent ihres Verhältnisses, ist nicht ein Schluß-Kind aus beiden Vorstellungen (sonst wäre sie deren Teil und Glied, nicht deren Kind), sondern die Wundergeburt unsers Schöpfer-Ich, zugleich sowohl frei erschaffen – denn wir wollten und strebten – als mit Notwendigkeit – denn sonst hätte der Schöpfer das Geschöpf früher gesehen als gemacht oder, was hier dasselbe ist, als gesehen. Vom Feuer zum Brennholze daneben zu gelangen, ist derselbe Sprung vonnöten – wozu die Füße des Affen nicht hinreichen – der von den Funken des Katzenfells zu den Funken der Wetterwolke auffliegt. Der Witz allein daher erfindet, und zwar unvermittelt; daher nennt ihn Schlegel mit Recht fragmentarische Genialität; daher kommt das Wort Witz, als die Kraft zu wissen, daher »witzigen,« daher bedeutete er sonst das ganze Genie; daher kommen in mehren Sprachen dessen Ich-Mitnamen Geist, esprit, spirit, ingeniosus. Allein ebensosehr als der Witz nur mit höherer Anspannung – vergleicht der Scharfsinn, um die Unähnlichkeit zu finden, und der Tiefsinn, um Gleichheit zu setzen; und hier ist der heilige Geist, die dritte Vorstellung, die als die dritte Person aus dem Verhältnisse zweier Vorstellungen ausgeht, überall auf gleiche Weise ein Wunderkind.

Hingegen in Rücksicht der Objekte tritt ein dreifacher Unterschied ein. Der Witz, aber nur im engern Sinn, findet das Verhältnis der Ähnlichkeit, d.h. teilweise Gleichheit, unter größere Ungleichheit versteckt; der Scharfsinn findet das Verhältnis der Unähnlichkeit, d.h. teilweise Ungleichheit, unter größere Gleichheit[171] verborgen; der Tiefsinn findet trotz allem Scheine gänzliche Gleichheit. (Gänzliche Ungleichheit ist ein Widerspruch und also undenkbar.) Überraschung, welche man sonst noch als Zeichen und Geschenk des Witzes vorrechnet, unterscheidet dessen Schaffen wenig von dem Schaffen anderer Kräfte, des Scharf-, des Tiefsinns, der Phantasie etc. etc.; jede überrascht durch das ihrige, der Witz noch mehr durch seines, weil seine bunten Flügelzwerge leichter und schneller vor das Auge springen. Verliert aber zweimal gelesener Witz zugleich mit der Überraschung seinen Wert? –

Aber hiemit ist noch zu wenig bestimmt. Der Witz im engern Sinne findet mehr die ähnlichen Verhältnisse inkommensurabler (unanmeßbarer) Größen, d.h. die Ähnlichkeiten zwischen Körper- und Geistenwelt (z.B. Sonne und Wahrheit), mit andern Worten, die Gleichung zwischen sich und außen, mithin zwischen zwei Anschauungen. Diese Ähnlichkeit erzwingt ein Instinkt der Natur118, und darum liegt sie offner und stets auf einmal da. Das witzige Verhältnis wird angeschauet; hingegen der Scharfsinn, welcher zwischen den gefundenen Verhältnissen kommensurabler und ähnlicher Größen wieder Verhältnisse findet und unterscheidet, dieser lässet uns durch eine lange Reihe von Begriffen das Licht tragen, das bei dem Witze aus der Wolke selber fährt; und der Leser muß dort dem Erfinder die ganze Mühe des Erfindens nachmachen, welche der Witz ihm hier erlässet.

Der Scharfsinn, als der Witz der zweiten Potenz, muß daher seinem Namen gemäß (denn Schärfe trennt) die gegebenen Ähnlichkeiten von neuem sondern und sichten.

Jetzo entwickelt sich die dritte Kraft, oder vielmehr eine und dieselbe tritt ganz am Horizont hervor, der Tiefsinn. Dieser ebenso im Bunde mit der Vernunft, wie der Witz mit der Phantasie – trachtet nach Gleichheit und Einheit alles dessen, was der Witz anschaulich verbunden hat und der Scharfsinn verständig geschieden. Doch ist der Tiefsinn mehr der Sinn des ganzen Menschen als einer abgeteilten Kraft, er ist die ganze gegen die Unsichtbarkeit und gegen das Höchste gekehrte Seite. Denn er[172] kann nie aufhören, gleichzumachen, sondern er muß, wenn er eine Verschiedenheit nach der andern aufgehoben, endlich – so wie der Witz Gegenstände foderte und verglich, aber der Scharfsinn nur Vergleichungen – als ein höherer göttlicher Witz bei dem letzten Wesen der Wesen ankommen und, wie ins höchste Wissen der Scharfsinn, sich ins höchste Sein verlieren.

118

Die nähern Bestimmungen folgen in den nächsten §.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 171-173.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Vorschule der Ästhetik
Vorschule Der Aesthetik: Nebst Einigen Vorlesungen in Leipzig Uber Die Parteien Der Zeit Volume 2
Vorschule Der Aesthetik (1); Nebst Einigen Vorlesungen in Leipzig Uber Die Parteien Der Zeit
Vorschule Der Aesthetik Nebst Einigen Vorlesungen in Leipzig Uber Die Parteien Der Zeit (1)
Vorschule Der Aesthetik Nebst Einigen Vorlesungen in Leipzig Uber Die Parteien Der Zeit
Vorschule Der Aesthetik Nebst Einigen Vorlesungen in Leipzig Uber Die Parteien Der Zeit (3)