Was uns bleibt
1813.

[106] Was uns bleibt, wenn Deutschlands Säulen brechen,

Wenn der Götter Stimme trügt,

Wenn der Menschheit Wunden sich nicht rächen,

Wenn das heiligste Vertrauen lügt,[106]

Wenn umsonst die aufgeblitzte Jugend

Um des Vaterlandes Kerker stürmt

Und des Volkes spartergleiche Tugend

Fruchtlos Leichen über Leichen türmt?

Was uns bleibt, wenn wir trotz unserm Rechte

Knirschend vor dem falschen Glücke stehn

Und des Wüt'richs feile Henkersknechte

Mordend durch der Freiheit Tempel gehn?

Was uns bleibt, wenn unser Blut vergebens

Auf des Vaterlandes Grab verraucht

Und der Freiheit Stern, der Stern des deutschen Lebens,

An dem deutschen Himmel niedertaucht?

Was uns bleibt? Rühmt nicht des Wissens Bronnen,

Nicht der Künste friedensreichen Strand!

Für die Knechte gibt es keine Sonnen,

Und die Kunst verlangt ein Vaterland.

Aller Götter Stimmen sind verklungen

Vor dem Jammerton der Sklaverei,

Und Homer, er hätte nie gesungen –

Doch sein Griechenland war frei!

Was uns bleibt? Ein christliches Ertragen,

Wo des Dulders feige Thräne taut?

Soll ich selbst den Altar mir zerschlagen,

Den ich mir Herzen aufgebaut?

Soll ich das für Gottes Finger halten,

Wo der Menschheit Engel Rache schrei'n?

Wo die Teufel teuflisch walten,

Das kann nur ein Sieg der Hölle sein!

Bleibt uns nichts? Fliehn alle gute Engel

Mit verwandtem Angesicht?

Brechen aller Hoffnung Blütenstengel,

Weil des Sieges Palme bricht?

Kann der Arm kein rettend Kreuz umklammern

In der höchsten, letzten Not?

Müssen wir verzweifeln und verjammern?

Gibt es keine Freiheit als den Tod?

Doch! Wir sehn's im Aufschwung unsrer Jugend,

In des ganzen Volkes Heldengeist:

Ja! es gibt noch eine deutsche Tugend,

Die allmächtig einst die Ketten reißt.[107]

Wenn auch jetzt in den bezwung'nen Hallen

Tyrannei der Freiheit Tempel bricht,

Deutsches Volk, du konntest fallen,

Aber sinken kannst du nicht!

Und noch lebt der Hoffnung Himmelsfunken!

Mutig vorwärts durch das falsche Glück!

's war ein Stern! Jetzt ist er zwar versunken,

Doch der Morgen bringt ihn uns zurück.

's war ein Stern! Die Sterne bleiben.

's war der Freiheit goldner Stern!

Laß die blut'gen Wolken treiben –

Der ist in der Hut des Herrn!

Mag die Hölle drohn und schnauben,

Der Tyrann reicht nicht hinauf,

Kann dem Himmel keine Sterne rauben –

Unser Stern geht auf!

Ob die Nacht die freud'ge Jugend töte

Für den Willen gibt es keinen Tod,

Und des Blutes deutsche Heldenröte

Jubelt von der Freiheit Morgenrot![108]


Quelle:
Theodor Körner: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1893, S. 106-109.
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