Wenn ich erwache, denk ich dein!
Du Gott! der Tag und Nacht entscheidet,
Und in der Nacht mit Sonnenschein
Den finstern Mond bekleidet.
[3]
Er leuchtet königlich daher,
Aus hoher ungemeßner Ferne,
Und ungezählt, wie Sand am Meer,
Stehn um ihn her die Sterne.
Welch eine Pracht verbreitet sich!
Die Dunkelheit geschmückt mit Lichte
Sieht auf uns nieder, nennet dich
Mit Glanz im Angesichte.
Du Sonnenschöpfer! wie so groß
Bist du im kleinsten Stern dort oben!
Wie unaussprechlich nahmenlos!
Die Morgensterne loben
Dich mit einander in ein Chor
Geschlossen, wie zu jener Stunde,
Da aus dem Chaos tief hervor
Ein Wort aus deinem Munde
[4]
Allmächtig diese Welten rief,
Am Firmament herum gesetzet.
Du sprachst, das Rad der Dinge lief,
Und läuft noch unverletzet.
Noch voller Jugend glänzen sie
Da schon Jahrtausende vergangen!
Der Zeiten Wechsel raubet nie
Das Licht von ihren Wangen.
Hier aber unter ihrem Blick
Vergeht, verfliegt, veraltet alles.
Dem Thronenpomp, dem Cronenglück
Droht eine Zeit des Falles!
Der Mensch verblüht wie prächtig Gras,
Sein Ansehn wird der Zeit zum Raube.
Der Weise, der in Sternen las,
Liegt schon gestreckt im Staube!
[5]
Ich lese, grosser Schöpfer! dich
Das Nachts in Büchern, aufgeschlagen
Von deiner Hand. O lehre mich
Nach deinem Lichte fragen!
Sey meiner Seele Klarheit, du
Regierer der entstandnen Sterne!
Und blicke meinem Herzen zu,
Daß es dich kennen lerne!
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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
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