An Gott als sie bey hellem Mondschein erwachte

Wenn ich erwache, denk ich dein!

Du Gott! der Tag und Nacht entscheidet,

Und in der Nacht mit Sonnenschein

Den finstern Mond bekleidet.
[3]

Er leuchtet königlich daher,

Aus hoher ungemeßner Ferne,

Und ungezählt, wie Sand am Meer,

Stehn um ihn her die Sterne.


Welch eine Pracht verbreitet sich!

Die Dunkelheit geschmückt mit Lichte

Sieht auf uns nieder, nennet dich

Mit Glanz im Angesichte.


Du Sonnenschöpfer! wie so groß

Bist du im kleinsten Stern dort oben!

Wie unaussprechlich nahmenlos!

Die Morgensterne loben


Dich mit einander in ein Chor

Geschlossen, wie zu jener Stunde,

Da aus dem Chaos tief hervor

Ein Wort aus deinem Munde
[4]

Allmächtig diese Welten rief,

Am Firmament herum gesetzet.

Du sprachst, das Rad der Dinge lief,

Und läuft noch unverletzet.


Noch voller Jugend glänzen sie

Da schon Jahrtausende vergangen!

Der Zeiten Wechsel raubet nie

Das Licht von ihren Wangen.


Hier aber unter ihrem Blick

Vergeht, verfliegt, veraltet alles.

Dem Thronenpomp, dem Cronenglück

Droht eine Zeit des Falles!


Der Mensch verblüht wie prächtig Gras,

Sein Ansehn wird der Zeit zum Raube.

Der Weise, der in Sternen las,

Liegt schon gestreckt im Staube!
[5]

Ich lese, grosser Schöpfer! dich

Das Nachts in Büchern, aufgeschlagen

Von deiner Hand. O lehre mich

Nach deinem Lichte fragen!


Sey meiner Seele Klarheit, du

Regierer der entstandnen Sterne!

Und blicke meinem Herzen zu,

Daß es dich kennen lerne!

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 1-6.
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Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

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