Morgen-Gedanken

[20] 1761.


Der Morgen dreht sein heitres Angesichte

Uns lächelnd zu, und weckt mit sanftem Lichte

Die Creaturen an den Tag hervor!

Der Sperling schwazt, die muntern Hähne krähen

Den Lobgesang, und aller Augen sehen,

Zu Gott, der sie ernährt, empor.


Auch ich bin wach, und meinem ersten Blicke

Befehl ich, daß er Dank zum Himmel schicke

Für diese Ruh, für diese sanfte Nacht!

Es ist ein Gott, der diese Welt regieret,

Der aus dem Staub mich wunderbar geführet,

Und der mir Freud und Freunde macht!
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Es ist ein Gott! er sah oft meine Zähren,

Und hörte Kinder Brod von mir begehren,

Wann lange schon die Mittags-Sonne schien.

Sie sind dahin, die Tage meiner Plagen,

Und daß nach Brod nicht meine Sorgen fragen;

Dies will mein Gott, dies ist durch ihn.


Mein ruhig Herz und dieser stille Friede,

Der um mich herrscht, der keinen Tag mich müde

Von Arbeit, oder von Verdrusse, sieht;

Das sanfte Feur, das durch die Adern dringet,

Und dis Gefühl, das in mir denkt, und singet,

Das dank ich dem, der mich durch Güte zieht.


Ich heische nicht aus seinen vollen Händen

Ein grösser Glück. Nicht Reichthum soll er senden,

Nicht eiteln Ruhm und was ins Auge fällt.

Mein Mittelstand, der Rock, der reinlich kleidet,

Ein gnugsam Brod, genossen unbeneidet,

Dies sey mein Theil und bleib es in der Welt.

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 20-22.
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