Morgen-Gesang an ihre Seele

[24] Der junge Tag, zurückgekommen

Mit neugeschaffnem Angesicht,

Hat halb die Freundlichkeit des Gottes angenommen,

Der ihn bekleidet mit Licht!


Du, Seele! bist nicht fortgerissen

Aus mir, durch irgend eine Macht;

O dem, auf dessen Wort die Himmel horchen müssen,

Sey neues Opfer gebracht!


Er durfte sprechen, durfte winken,

So schlug der Todes-Engel mich,

So mußt ich plözlich hin in ewgen Schlaf versinken

Und Luft bekleidete dich!
[25]

Er hieß mich leben, hieß dich bleiben,

Dich, die vom Himmel niederfuhr;

Sey Funken oder Hauch, ich kann dich nicht beschreiben,

Empfinden kann ich dich nur!


Du denkst in mir, du kannst dich schwingen

Dem unsichtbaren Winde gleich,

In einem Augenblick dahin, wo Engel singen,

Und singst mit ihnen zugleich!


Du übersteigest Mond und Sterne

Fliehst schnell zurück, du schweifst umher

Wie Gottes Blitz, und schwebst in ungemeßner Ferne

Hoch über Hügel und Meer!


Du drengest dich durch dicke Mauren,

Du achtest feste Schlösser nichts;

Ich fühl es, daß du strebst der Gottheit gleich zu dauren,

Zu trinken Ströme des Lichts.
[26]

Dein nahmenloser Geiz begehret

Mehr, als die Welt zu geben weiß;

Von Wollust oder Gold und Ehre nicht genähret,

Bleibt stets dein Hunger noch heiß,


Bis du zum Seraph wirst erhoben.

O fühle deine Würde ganz,

Unsterbliche! dir gab der, den die Sterne loben

Ein Theil vom himmlischen Glanz.

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 24-27.
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