Lied an gefangene Lerchen

[94] dem Dohmdechant Freyherrn Spiegel zum Diesenberg zugeeignet


(Zu Halberstadt den 5ten des Weinmonats 1761.)


Seyd mir beklagt, ihr, in das Garn verlockte!

Euch hat aus hoher Luft gehört

Der fromme Fühlende; euch hörte der Verstockte

Der keinen Gott erkennt und ehrt.


Ihr sangt dem Landmann kleine Frülings Bothen!

Ihr sangt der Bäurin Hoffnung zu;

Er grif den Pflug, und sie, versprach bald von der todten

Eiskalten Erde Graß der Kuh!


Wenn in der Stadt zu satt gewordne Schläfer,

Sechs Stunden nach der Sonnen Blick,

Noch schliefen; dann vernahm euch lange schon der Schäfer

Und sang wie ihr von Freud und Glück.
[95]

Im hohen Grase weideten die Rinder

Der Hirte blieb am Eichbaum stehn,

Euch horchend, und das Thal sah eine Welt voll Kinder

Nach eurem Liede tanzend gehn.


Mirtill den jungen Schäfer nahm Galtere,

Die schönste, bey der Hand und sprach:

Die Lerchen singen süß, Geliebter komm und höre

Ihr Lied, und singe lieblich nach!


Er, dem des ersten Menschen zweyten Sohnes

Des Abels fromme Muse ward,

Nahm seine Leyer, sang! die Höhe seines Thones

Glich eurer Lobgesänge Art.


Dann rollten von Galterens schönen Wange

Sechs Thränen, blinkend, wie der Thau

Am Frühlings Morgen fiel! indem ihr mit Gesange

Gegrüßt die Blumen auf der Au!
[96]

Euch hörten lachend, Hand an Hand geschlossen

Die Schnitter eilend in das Feld!

Und, im Getümmel, ganz mit Krieger Schweiß beflossen

Vernahm euch Sänger noch der Held!


Oft senktet ihr die grauen Flügel nieder,

Kamt in die Furchen; also trieb

Mich Nahrungs-Kummer oft, daß ich, zu kleine Lieder

Matt sang und an Unedle schrieb.


Ihr sangt nicht mehr, so bald der fette Weitzen

Geerndtet war; ihr Sänger schwiegt

Und müßig liesset ihr euch zu dem Netze reizen

Darin ihr nun gefangen liegt.


Seyd mir ein Beyspiel! vor dem Müßiggange

Soll sich in mir die Seele scheun,

Kein Tag soll untergehn, daß ich nicht mit Gesange

Mich meines Schöpfers will erfreun!
[97]

Mir giebt er von des Landes Mark zu essen;

Mir wird das Leben honigsüß:

Sollt aber ich zu satt, den treuen Gott vergessen,

Der nie vergaß und nie verließ?


Ihm will ich singen hohe Lobgesänge!

Selbst meine Thränen sind sein Lied;

O! mein Entzücken weint oft heimlich eine Menge

Wenn ihn mein Herz in Freunden sieht.

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 94-98.
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