An die Leda

[30] Von dem Olympus zogest du ihn nieder,

O Leda! deinetwegen trägt

Der Donnergott ein lilienweiß Gefieder,

Der sonst mit Keulen um sich schlägt.


Er theilt die Wolken, seine Flügel trennen

Den Aether und den Sonnenstrahl,

Er kommt, und deines Auges Blicke brennen,

Dein Antlitz blühet wie das Thal.


Dein Busen schwillt, wie kleine Flocken Hügel,

Wenn Boreas durch Fluren bläst

Und jeder Bach verwandelt wird zum Spiegel,

Und das gestorbne Laub verwest.
[30]

Du lächelst mit der fein geschnitzten Lippe

Dem Schwane, der den Hals erhebt

Und nach der weißen Alabaster Klippe

Wollüstig mit dem Schnabel strebt.


Sein maulbeerfarbnes Auge redet Liebe,

Die ganze Macht der Buhlerei,

Den innern Aufruhr schlau versteckter Triebe

Verräth der Schwan durch Schmeichelei.


Er will dich küssen, sterbliche Beglückte!

Beneidenswerthe Leda! dich

Umfaßt mit beiden Flügeln der entzückte,

Beflammte Gott, und wünschet sich


Den süßen Rausch der Küssenden auf Erden,

Und fühlet Amors stärksten Pfeil,

Und trinket mit süßlachenden Geberden

Des Liebes-Nektars lezten Theil.
[31]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 30-32.
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