Frühlingsglaube

[37] Es wandert eine schöne Sage

Wie Veilchenduft auf Erden um,

Wie sehnend eine Liebesklage

Geht sie bei Tag und Nacht herum.


Das ist das Lied vom Völkerfrieden

Und von der Menschheit letztem Glück,

Von goldner Zeit, die einst hienieden,

Der Traum als Wahrheit, kehrt zurück;


Wo einig alle Völker beten

Zum einen König, Gott und Hirt:[37]

Von jenem Tag, wo den Propheten

Ihr leuchtend Recht gesprochen wird.


Dann wird's nur eine Schmach noch geben,

Nur eine Sünde in der Welt:

Des Eigen-Neides Widerstreben,

Der es für Traum und Wahnsinn hält.


Wer jene Hoffnung gab verloren

Und böslich sie verloren gab,

Der wäre besser ungeboren;

Denn lebend wohnt er schon im Grab.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 37-38.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gesammelte Gedichte
Die Leute von Seldwyla / Gesammelte Gedichte: BD 3
Sieben Legenden und Gesammelte Gedichte