Stille der Nacht

[12] Willkommen, klare Sommernacht,

Die auf betauten Fluren liegt!

Gegrüßt mir, goldne Sternenpracht,

Die spielend sich im Weltraum wiegt!


Das Urgebirge um mich her

Ist schweigend, wie mein Nachtgebet;[12]

Weit hinter ihm hör ich das Meer,

Im Geist, und wie die Brandung geht.


Ich höre einen Flötenton,

Den mir die Luft von Westen bringt,

Indes herauf im Osten schon

Des Tages leise Ahnung dringt.


Ich sinne, wo in weiter Welt

Jetzt sterben mag ein Menschenkind –

Und ob vielleicht den Einzug hält

Das viel ersehnte Heldenkind.


Doch wie im dunklen Erdental

Ein unergründlich Schweigen ruht,

Ich fühle mich so leicht zumal

Und wie die Welt so still und gut.


Der letzte leise Schmerz und Spott

Verschwindet aus des Herzens Grund;

Es ist, als tät der alte Gott

Mir endlich seinen Namen kund.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 12-13.
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