Meergedanken

[253] O wär mein Herz das tiefe Meer

Und meine Feinde die Schiffe:

Wie schleudert' es sie hin und her

An seines Zornes Riffe!


Und endlich schläng es unter sie,

Hinunter in die Tiefe,

Daß drüber glänzend spät und früh

Der Meeresfrieden schliefe.


So aber ist's ein Wellchen kaum,

Von tausend Wellen eine;

Doch nagt und wäscht ihr leichter Schaum

Am morschen Schiffsgebeine.


Wir Wellen ziehen treu vereint,

Und eine folgt der andern;

Wir haben all den gleichen Feind,

Nach dem wir spähn und wandern.


Die Geisternot, der Wirbelwind,

Der peitscht uns, bis wir schäumen,

Bis alle wach geschlagen sind

Aus ihren Wasserträumen.
[253]

Und endlich sinkt im Trümmerfall,

Was wir so lang getragen –

Heil uns, wenn wir mit sattem Schwall

Dann oben zusammenschlagen!


Dann ruft's von allen Ufern her,

Als ständ der Himmel offen:

Das Schiff der Lügner ist im Meer

Mit Mann und Maus ersoffen!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 253-254.
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