3. Frühgesicht

[158] Es donnert über der Pfaffengaß

Des weiland Heil'gen Römischen Reiches

Wie Gottes Heerschild jähen Streiches;

Der Morgen dämmert rosig blaß.
[158]

Und wie der Schlag weithin verhallt,

Wogt eine graue Nebelmasse,

Als zög ein Heervolk seine Straße,

Das auf den Wassern endlos wallt.


Im Zwielicht raget Dom an Dom,

An allen Fenstern lauscht's verstohlen;

Doch auf gedankenleichten Sohlen

Vorüber eilt der Schattenstrom.


Das rauscht und tauschet Hand und Kuß,

Der Sturmhauch rührt verjährte Fahnen

Wie neues Hoffen, altes Mahnen,

Erschauernd wie ein Geistergruß.


Was brav und mannhaft ist, vereint

Zieht es, den letzten Streit zu schlagen;

Es klirrt zu Fuß, zu Roß und Wagen,

Zum Freunde wird der alte Feind,

Und neben Siegfried reitet Hagen.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 158-159.
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