Stein und Holz-Reden

[148] Auf Lüneburger Heide,

Da steht der alte Stein,

Daneben die alte Eiche,

Sie mag wohl tausendjährig sein.


Gesellen ziehn vorüber

Im Lenz mit frischem Sang;[148]

Sie singen von deutscher Freiheit,

In heller Luft verhallt der Klang.


Da spricht der Stein zur Eiche,

Als wacht' er auf vom Traum:

»Ging nicht vorbei die Freiheit?

Wach auf, wach auf, du deutscher Baum!«


Und durch des Baumes Krone,

Da fährt ein Windesbraus,

Die moosigen Äste schlagen

In tausend jungen Augen aus!


Da spricht zum alten Steine

Der frisch ergrünte Baum:

»Klang nicht das Lied der Einheit?

Wie, oder war's des Windes Traum?«


Die Sänger sind gezogen

Fernhin durchs Heidekraut,

Die Eiche hat ihnen von oben

Gar lang und traurig nachgeschaut.


Den letzten Ton in Lüften

Hat sie verhallen gehört,

Dann hat sie rauschend die Äste

Vom welken Laub im Zorn geleert.


»Nun will ich wieder schlafen«,

Spricht sie zum alten Stein,

»Du wunderlicher Träumer,

Sollst mir nun einmal stille sein!«


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 148-149.
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