Vier Jahreszeiten

[146] Und wieder grünt' der schöne Mai,

O dreimal selige Zeit!

Wie flog die Schwalbe froh herbei!

Als ob ich mitgeflogen sei,

War mir das Herz so weit!


O linde Luft im fremden Land,

Auf Bergen und Gefild!

Wie reizend fand ich diesen Strand,

Allwo mein suchend Auge fand

Ihr leicht hinwandelnd Bild!


Ich sah des Sommers helle Glut

Empörtes Land durchziehn;

Sie stritten um das höchste Gut,

Geschlagen mußt das freiste Blut

Aus hundert Wunden fliehn.


Kaum hört ich in verliebter Ruh

Der schwülen Stürme Wehn;

Ich wandte mich den Blumen zu

Und sprach: »Vielleicht, mein Herz, wirst du

Ein andres Herz erstehn!«
[146]

Die Traube schwoll so frisch und blank,

Und ich nahm beiderlei:

Mit ihrem Gruß den jungen Trank –

Und als die letzte Traube sank,

Da war der Traum vorbei.


Doch jene, die zur Sommerzeit

Der Freiheit nachgejagt,

Sie schwanden mit der Schwalbe weit,

Sie liegen im Friedhof eingeschneit,

Wo trüb der Nachtwind klagt.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 146-147.
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