Der falsche Hafisjünger

[292] Ich bet in aller Frühe

Und jeden Abend wieder,

Damit ich fromm erglühe,

Hafisens süße Lieder.


Ich murmle sie beständig

Im Pharisäermunde;

Denn sie sind nicht lebendig

Auf meiner Seelen Grunde.


Wie einst ich meinem Gotte

Tugend und Treu versprochen

Und täglich ihm zum Spotte

Dennoch das Wort gebrochen,


So brech ich jetzo wieder

Das angelobte Streben,

Von Lieb und Wein die Lieder

Auch orthodox zu leben,


Indes ich kalt und nüchtern

Und grämlich mich verbittre,

Indes ich blöd und schüchtern

In meinem Herzen zittre.


Indes ich mit Bülbülen

Und mit Narzissen prahle,

Sorg einzig ich im stillen,

Wie sich die Zeche zahle.


Verfluchtes Buch, das dreimal

Ich schon veräußert habe![293]

Stets kehrt zurück das Scheusal

Wie eines Teufels Gabe!


Und wieder mit Geflüster

Bet ich in dem Breviere

Und hock, wie ein Magister

Bei seinem sauren Biere!


So ist zu jeden Zeiten

Die Heuchelei vom Bösen –

Mög uns nach allen Seiten

Der Herr davon erlösen!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 292-294.
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