Bei einer Kindesleiche

[330] Den niemand kommen hört und kommen sieht,

Er hat geweht, der Wind, den Baum geschwungen,

Des Wurzelwerk die Erde überzieht,

In dessen Kron ich dieses Lied gesungen;

Das jüngste Knösplein, gestern dran erblüht,

Hat über Nacht sich leise losgerungen;

Es fiel, und niemand gab wohl weiter acht

Als ich, der mit dem Zufall hielt die Wacht.


So bist erlöscht du, lieblich junges Licht,

Das mir erquickend in das Herz gezündet?

Noch sprach zwei Wörtchen deine Zunge nicht,

Doch hat dein Lallen mir soviel verkündet!

Das Sehnen, das die zartsten Bande flicht,

Es hat tiefinnig mich mit dir verbündet;

Ja, vor viel Großem unter dieser Sonnen

Hab ich dich kleinen Nachbar wert gewonnen!


Ob ich gen Himmel sah ins blaue Meer,

Ob in dein Aug, es war das gleiche Schauen;

Es leuchtete aus diesen Sternen her

Ursprünglich helles Licht von schönern Auen.

Wie oft senkt ich den Blick, von Mühsal schwer,

Ihn frischend, tief in dies verklärte Blauen!

Wie war das Lachen deines Mundes fein!

Wie echt war unsre Freundschaft, still und rein!


Nie hab an deine Zukunft ich gedacht,

War ja die Gegenwart so klar und heiter!

Du hast wie eine Blume mir gelacht,

Nicht dacht ich an gereifte Früchte weiter;[331]

Ob einst vielleicht ein Held in dir erwacht',

Ob du am Fuße bliebst der langen Leiter:

Du lieblich Kind warst in dir selbst vollkommen –

Was sollte dir und mir die Sorge frommen?


Zu der du wiederkehrst, grüß mir die Quelle,

Des Lebens Born, doch besser: grüß das Meer,

Das eine Meer des Lebens, dessen Welle

Hoch flutet um die dunkle Klippe her,

Darauf er sitzt, der traurige Geselle,

Der Tod, verlassen, einsam, tränenschwer,

Wenn ihm die Seelen, kaum hier eingefangen,

Laut jubelnd wieder in die See gegangen.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 330-332.
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