Das große Schillerfest

[409] 1859


Schnee und Regen floß hernieder

Auf novemberbraunen Bergen,

Trostlos rangen alle Wipfel

Mit den schweren grauen Wolken.


Von den Büschen troff es klagend,

Jeder Dorn war eine Traufe,

Die hinab von Dorn zu Dornen

Unaufhörlich floß und weinte.
[409]

Aus den dunklen Forsten wankte

Irren Schritts ein Weib hervor,

Zart gebaut, in dünnem Kleide,

Aber fruchtbeschwerten Leibes.


Zitternd und mit starren Fingern

Las sie nasses Laub und Reisig;

Mühsam sich zur Erde bückend,

Raffte sie ein zaghaft Büschel.


Und der Brombeer wirre Schlingen

Hingen sich an ihre Füße,

Daß sie strauchelt', und das Weinen

Hing an ihren Augenwimpern.


Kam ein zweites Weib gegangen,

Groß und stark und guter Hoffnung;

Schwere Hölzer auf dem Haupte,

Schritt sie aufrecht her und trotzig.


Und sie rief mit lautem Lachen:

»Ei, Gevattrin! wie zu sehen,

Sind wir beide gleich gesegnet?

Nun wahrhaftig muß ich lachen!«


Doch die andre fing urplötzlich

Bitterlich laut an zu weinen,

Und die regenschwere Schürze

Drückt' sie schluchzend an die Augen.


»Wieder soll ich nun gebären!«

Sprach sie, kummerschwer sich fassend,

»Und ich habe nicht, wovon ich

Mir ein warmes Süppchen koche!
[410]

Meinen Gatten und Ernährer

Hab ich traurig jüngst verloren,

Als er einen Stamm geschlagen,

Der ihn fallend wieder schlug.


Und ich weiß nicht, wie das endet;

Leben soll zu Leben kommen,

Und das drängt sich und das mehrt sich,

Und das Herz ist krank zum Tode!


Wie ein Tier auf wilder Heide

Schein ich mir, das ohne Gott,

Ohne Gott und ohne Sterne

Hungernd irrt und sich vermehrt.« –


»Hei, was ficht dich an, du Blöde?«

Rief die andre, heller lachend;

»Lustig baun wir unsre Wölbung

In das weite Reich hinaus!


Fäuste geb ich meinen Kindern

Und gesunde weiße Zähne!

Sieh, das jüngste hat mir neulich

Hier den Ohrlapp durchgebissen!


Meinen Mann hab ich vertrieben,

Weil er faul war und den Kindern

Alles Brot, das ich erworben,

Vor den Mäulern wegstibitzte!« –


»Du bist stark und du bist frech!«

Sagte wiederum die andre;

»Ich bin zag, und das Gewissen

Liegt mir leider in der Art!«
[411]

Also standen beide Weiber

Hohen Leibs sich gegenüber,

Und je lauter jene lachte,

Desto traur'ger wurde diese.


Und es kam der Nordlandswind

Mächtig rauschend über die Berge,

Und die Tränen der Bedrängten

Trocknete sein scharfes Wehen.


In der Höhe schwamm im Blauen

Einesmals die Spätherbstsonne,

Daß in hellem Golde flammten

Wie ein Morgenrot die Wälder.


In der Tiefe trieben wogend

Aufgejagt die zerrissenen Nebel,

Vor dem wehenden Riesenhauche

Stürmten sie verscheucht davon.


Doch ein prächtiges Festgeläute

Überklang das mächt'ge Rauschen,

Und im Glanze der blitzenden Sonne

Lag im Tal eine strahlende Stadt.


Lang hinwallende Bürgerzüge

Sah man schimmernd sich drin bewegen,

Ihnen wehte die fliegende Seide

Reich gebildeter Banner voran.


Herrlich wogte der Wind aus Norden,

Und die Glocken erschollen mit Macht;

Da ertönten auch starke Posaunen,

Helle Trompeten mit schwellender Pracht.
[412]

Und die singende Menschenstimme

Deutlich man dazwischen vernahm,

Seltsam, neu und herzerschütternd

Wie der seliggewordene Gram.


»Freude, schöner Götterfunken!«

Hallte herüber der klingende Sturm;

War kein Kirchenlied und kein Kriegslied,

Doch die Glocken schallten vom Turm.


Horchend standen die armen Frauen,

Und die Lacherin wurde still;

Und sie sprach: »Wer doch nur wüßte,

Was das alles bedeuten will?


Einer rief, den zu Tale laufen

Ich mit hastigen Schritten sah,

Daß die schönere und die größere,

Ja die bessere Zeit sei nah!


Aber komm, du zage Klagende,

Was es immer bedeuten mag,

Feiern wir in meiner Hütte

Diesen unbekannten Tag!


Bringe die weinenden, deine Kleinen,

Zu den meinigen schnell zur Stell;

Wir entfachen ein lustiges Feuer,

Schaffen die Welt uns warm und hell!


Neuen Most hab ich im Hause,

Nüsse für die junge Brut;

Und beim frohen Mütterschmause

Fassen wir einen guten Mut!«
[413]

So genossen sie unwissend

Jenes Tages Silberblick;

Mit am warmen Feuer ruhte

Still ein künftiges Geschick.


Seine unsichtbaren Hüter

Lehnten am Standartenschaft

In den goldnen Wappenröcken:

Das Gewissen und die Kraft.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 409-414.
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