Berliner Pfingsten

[212] Heute sah ich ein Gesicht,

Wonnevoll zu deuten:

In dem frühen Pfingstenlicht

Und beim Glockenläuten

Schritten Weiber drei einher,

Feierlich im Gange,

Wäscherinnen, fest und schwer!

Jede trug 'ne Stange.


Mädchensommerkleider drei

Flaggten von den Stangen;

Schönre Fahnen, stolz und frei,

Als je Krieger schwangen,

Blau und weiß und rot gestreift,

Wunderbar beflügelt,

Frisch gewaschen und gesteift,

Tadellos gebügelt.


Lustig blies der Wind, der Schuft,

Lenden auf und Büste,

Und von frischer Morgenluft

Blähten sich die Brüste!

Und ich sang, als ich gesehn

Ferne sie entschweben:

Auf und laßt die Fahnen wehn,

Schön ist doch das Leben!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 212.
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