Ständchen für eine Prinzessin

[190] 1848


Schöne Bürgerin, sieh, der Mai

Flutet um deine Fenster!

Alle Seelen sind nun frei,

Und es zerfließen der Phantasei

Luftige Gespenster.

Liebliche Bürgerin Klara!


In die Tiefe tauche kühn,

Jugend und Liebe zu werben,

Wo die Bäume des Lebens blühn

Und die Augen wie Sterne glühn![190]

Droben bei dir ist Sterben,

Liebliche Bürgerin Klara!


Löse den Reif von goldenem Glanz

Aus den Lockenringen!

Wirf ihn herab, im klingenden Tanz

Einen blühenden Myrtenkranz

Wollen wir froh dir schlingen,

Liebliche Bürgerin Klara!


Fühle, du Engel, dies heilige Wehn,

Das allmächtige Treiben!

O dein Himmel wird untergehn

Und ein schönerer auferstehn –

Willst du ein Engel bleiben,

Liebliche Bürgerin Klara?


Nicht wie Luna in schweigender Nacht

Küßte den träumenden Schläfer:

Komm in der Sonne strahlender Pracht,

Daß das schöne Lied erwacht:

Königstochter und Schäfer!

Liebliche Bürgerin Klara!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 190-191.
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