Türkischer Brauch

[251] »O welch ein Wehen, Rosalinde!

Im blütenüberfüllten Tal![251]

Durch das Gewölk, getrennt vom Winde,

Quillt brennendrot der Abendstrahl;

Wie Feuer fließt der Frühlingsregen,

Wie Feuer rollt es auf den Wegen

Und trieft's von jedem Zweig zumal!


Und siehst du dort die Gruppe ragen,

Am Kreuzweg, finster in die Glut,

In sich geschart, wie stumme Klagen,

Die malerische Bettlerbrut?

Ein hehres Bild ist hier errichtet,

Ein jeder Zug ist wie gedichtet –

Heut sind uns, traun! die Musen gut.


Gib Stift und Mappe, daß die rasche,

Die kunstgeübte Zeichnerhand

Die Perle dieses Bildes hasche,

Das ich Beglückter heute fand!

Zu schöner Stunden heitrem Schauen,

Gemüt und Augen zu erbauen,

Sei es für immer festgebannt!


Siehst du, o teure Rosalinde!

Den bärt'gen Mann mit breitem Hut,

An dem die Mutter mit dem Kinde –

Madonnenurbild! – säugend ruht?

Es ragt das dunkle Haupt des Gatten,

In sich gekehrt, im braunen Schatten,

Das ihre schwimmt in Purpurglut.


Jedoch, daß von der flachen Erde

Das Bild gerundet auf sich schwingt:

Siehst du der Kindlein scheue Herde,

Wie sie der Eltern Knie umringt;[252]

Und düster, stumm, wie erzgegossen,

Von Licht und Regen überflossen,

Es glänzend in die Augen springt!


Welch einen Adel haucht das Ganze,

Stolz, wie ein ehern Königsgrab!

Wie thront in seines Jammers Glanze

Der Mann mit seinem Bettelstab!

Dank dir, o freundlichste der Musen,

Die ein empfänglich Herz im Busen,

Den feinen Sinn fürs Schöne gab!«


Da sind, im Tau des Grames schwimmend,

In dem der Abendstrahl sich bricht,

Ein großes Sternbild, dunkel glimmend,

Die Augen jener aufgericht.

Sie starren wundernd nach dem Bogen,

Von dem ihr Konterfei, gezogen

Von weißer Hand, schon deutlich spricht.


Und hoch aus seines Elends Mitte

Hob sich der arme Mann empor,

Und langsam trugen schwere Schritte

Die finstere Gestalt hervor;

Es schlossen fest sich seine Zähne,

Im Aug der Kränkung bittre Träne,

Im Antlitz dunklen Zornes Flor,


Stand er vor den Empfindungsvollen,

Die im hellichten Abendrot

Erbleichten ob dem dumpfen Grollen

Der furchtbar nahen Menschennot:

»Soll ich das sein? o sprich, du Fratze!

Soll meiner spotten dies Gekratze?«

Und trat das Bild tief in den Kot.
[253]

»Verdammt sei eurer Seelen Kälte,

Die mit den Blicken, spitz wie Stahl,

Herschleichend unterm Himmelszelte

Betasten unsre nackte Qual!«

Er hob der Armut harten Stecken,

Samt Rosalinden floh voll Schrecken

Der Schöngeist aus dem Blütental.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 251-254.
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