11. Das rote Bärbchen

[205] Wandl' ich in dem Morgentau

Durch die dufterfüllte Au,

Muß ich schämen mich so sehr

Vor den Blümlein rings umher!
[205]

Täublein auf dem Kirchendach,

Fischlein in dem Mühlenbach

Und das Schlänglein still im Kraut:

Alles nennt und fühlt sich Braut!


Apfelblüt im lichten Schein

Dünkt sich stolz ein Mütterlein,

Dieweil schon mit linder Wucht

Ihr im Schoße keimt die Frucht.


Gott! was hab ich denn getan,

Daß ich ohne Lenzgespan,

Ohne einen süßen Kuß

Ungeliebet sterben muß?


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 205-206.
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