12. Kunigunde

[206] Das Köhlerweib ist trunken

Und singt im Wald;

Hört ihr, wie ihre Stimme

Im Grünen hallt?


Ruht auf der roten Nase

Der Abendstrahl:

Glüht sie, wie wilde Rosen

Im dunklen Tal.


Sie war die feinste Blume,

Berühmt im Land;

Es warben Reich' und Arme

Um ihre Hand.
[206]

Sie trat in Gürtelketten

So stolz einher;

Den Bräutigam zu wählen

Fiel ihr zu schwer!


Da hat sie überlistet

Der rote Wein –

Wie müssen alle Dinge

Vergänglich sein!


Das Köhlerweib ist trunken

Und singt im Wald;

Wie durch die Dämmrung gellend

Ihr Lied erschallt!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 206-207.
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