XIX

[304] Während Martin Salander von den Zeitkrankheiten, welche zuletzt in schweren Symptomen bis an seinen häuslichen Herd drangen, in Verdruß, Sorge und Zweifel versetzt war, hatte er den Louis Wohlwend und sein Haus beinah ganz aus dem Gesicht verloren. Das rührte freilich auch daher, daß Wohlwend öfter reiste und, nachdem er die Knaben in ein erzieherisches Haus am Genfersee gebracht, in der Tat, wie er vorausgesagt, für seine Gottesstaatsidee zu wirken trachtete. Er suchte geistliche und weltliche Anführer heim und nahm an Versammlungen der verschiedensten Art teil, um der heiligen Sache Eingang zu verschaffen und dafür aufzutreten, fand aber, außer bei ein paar Perpetuum-Mobile-Erfindern und dergleichen wenig oder gar keinen Anklang. Mit vieler Mühe hatte er eine Verfassung ausgedacht, in welcher für alle Ratsversammlungen, vollziehenden Gewalten und Gerichte dem lieben Gott das Präsidium vorbehalten war und zur unmittelbaren Leitung der Geschäfte Vizepräsidenten durch die Kirchensynode gewählt wurden, die mit dem großen Landesrate zusammenfiel. Diese Synode sollte aus ebensoviel Laien als Geistlichen bestehen. In allen weltlichen und geistlichen Behörden, besonders auch in den Gerichten, wurde bei wichtigen Beschlüssen und Urteilen, wenn die Stimmen gleichstanden, dem göttlichen Präsidenten der Stichentscheid mittels des Loses anheimgestellt, das unter Innehalten einer eigenen Gebetordnung gezogen werden sollte usw. Gottes Stichentscheid erschien um so wundersamer, als Wohlwend auf Befragen erklärte, seiner weitgehenden Duldsamkeit sei es rein gleichgültig, welcher Gottesbegriff zugrunde gelegt werde, ob der persönlich überweltliche oder der allsächlich innerweltliche, der dreieinige oder der unbedingt einfachste; ihm komme es nur auf die Idealität des Gedankens an.

Diese Abenteuerlichkeit schadete ihm aber nicht einmal soviel, wie der gänzliche Mangel an wirklich religiösem Gefühl[305] oder an Verständnis oder Bewußtsein dessen, was er sich unter dem Worte Religion dachte. So merkte denn jeder, daß Wohlwend, sobald er sein Wort von den ewigen Idealen ausgestoßen habe, auf dem Boden seines Schulsackes angelangt und dieser kleiner sei, als derjenige frisch konfirmierter Kinder. Und seine ehemalige Schulmethode, anderen erst abzufragen, was er mit Vorteil sagen könne, ließ ihn jetzt ganz im Stich, da er alt war und sich nur lächerlich machte.

Dennoch ließ er das Ding nicht ruhen, tat, als ob er nichts merkte, und fuhr mit leichtem Sinne fort, jede Gelegenheit zum Entfalten des Prophetenmantels zu benutzen, ein Zeichen, daß Salander richtig gedacht und Wohlwend nur eine Spezialität besitzen wollte, um sie als Tarnkappe zu brauchen, auch eine Kurzweil zu haben, wie ehemals die Heraldik und den Krebsfang.

Nun, da die gute Jahreszeit vorüber und der erste Schnee gefallen, war er mehr zu Hause. Eines Morgens befand er sich mit der Frau Alexandra allein zusammen, in seltsamer Zwiesprache begriffen, welche er auf die Privatangelegenheiten gelenkt hatte. Es handelte sich um das Verhältnis zu Martin Salander; dasselbe war scheinbar eingeschlafen, und Wohlwend gedachte, es wieder zu beleben. Allein noch hatte er keinen Tritt in das Haus des alten Freundes getan, da er nicht dazu aufgefordert wurde, und er getraute sich nicht, ungeladen zu erscheinen; denn er fürchtete die dortige Hausfrau wie ein Schwert. Salander aber hatte die vergangenen Monate noch weniger Lust und Mut empfunden, den Versuch zu wagen und die Familie bei sich einzuführen.

Wohlwend saß an einem zierlichen, aber gebrechlichen Damenschreibtischchen, das er sich zugelegt, nur nebenbei etwa mit schriftlicher Arbeit beschäftigt. Im Mittelstücke des Aufsatzes, hinter einem Spiegeltürchen, lag in einem Tabernakel die Handschrift seines Verfassungsentwurfes. Halb gegen die Gattin gewendet, die auf dem Sofa weilte, erwiderte er auf etwas, das sie eben gesagt:[306]

»Kannst du mich denn ewig nie verstehen? Nicht auf den alten Herrn Salander hab ich es abgesehen mit der Myrrha! Er sieht sie gern und ist vielleicht verliebt in sie, damit will ich ihn allerdings an uns ziehen; allein er hat einen Sohn, der heimkehrt und der Erbe des bedeutenden Handelsgeschäftes sein wird. Dieser soll die Myrrha heiraten, wenn man meine Pläne nicht verdirbt; und dann hoff ich nicht nur, dadurch in nützliche Beziehungen zu kommen, sondern auch den sträflichen Hochmut der Madame heimzuzahlen, die uns verachtet.«

Für sich murmelte er noch:

»Der selbstgerechte und kluge Bruder Martin, ihr Gemahl, hat einstweilen durch die berühmten Schwiegersöhne den Lohn für jene Hochzeit erhalten, der Geldprotz!«

Indes hatte die Frau wieder zu reden begonnen, und er rief:

»Was sagst du?«

»Ich sage, man kann mit meiner Schwester nicht auf die Art umgehen! Schon durch den Spaß mit dem alten Herrn kommt sie in ein Geschwätz, und ist der Sohn da, so hat er vielleicht eine, die er weiß, oder will die Myrrha sonst nicht. Guck nur und schiel mich an, es ist so!«

Er rüttelte unwillkürlich an dem Tischchen, gegen das seine Hände sich stemmten.

Aber Alexandra redete nur lauter:

»Sie ist nicht die Gescheiteste und hat niemand mehr auf der Welt als mich, wie es scheint, der dafür sorgt, daß sie nicht –«

Hier wurde sie von Knall und Fall unterbrochen. Louis Wohlwend hatte sich zornig erhoben, auf das Schreibtischlein gestützt, und die dünnen gewundenen Säulchen, die es trugen, dabei auseinandergedrückt. Das zarte Möbel lag kläglich auf dem Boden mit allem, was sich darauf befunden; aus dem kleinen Porzellangefäße lief ein kümmerliches Bächlein Tinte.

In diesem Augenblicke trat auch Myrrha in das Zimmer und stellte sich mit Schrecken und Bedauern ebenfalls vor den Schaden. Wohlwend war plötzlich zur Besonnenheit und Frau Alexandra[307] aus dem Winkel zurückgekehrt, in welchen sie sich geflüchtet hatte. Hiermit blieb das Gespräch für einmal auf sich beruhen.

Das, wovon es handelte, schwebte dafür anderwärts an die Luft empor. Salanders Sorgen waren zur Ruhe gekommen, die Wut des allgemeinen Übels hatte nachgelassen, die ärgerlichen Zeitungsnachrichten hörten allmählich auf, und sein besonderer Anteil, die Geschichte der zwei Notare, war in der sühnenden Stille der Strafgefängnisse eingeschlafen, der kurze Scheidungsprozeß der Töchter entschieden und ihr altneues Leben im Elternhause tröstlich geordnet.

Sie hatten sich mit einem Teil ihres Gerätes im oberen Stockwerke eingerichtet und gingen der Mutter mit der im einsamen Ehestand angewöhnten häuslichen Tätigkeit zur Hand. Im übrigen lebten sie eingezogen und verhältnismäßig zufrieden, was die Mutter nicht hinderte, im stillen, soviel der Vater merken konnte, auf den Sohn Arnold zu bauen, durch welchen wohl der ein und andere Mann von Tüchtigkeit im Gesichtskreise der Familie auftauchen würde; denn die Töchter sähen eigentlich erst jetzt nach etwas aus, wie wenn sie an Inhalt gewonnen hätten. Arnold sollte einstweilen in dem Hause wohnen, wo Salanders Geschäftsräume waren. Er hatte die Liegenschaft endlich gekauft, weil die Eigentümer gestorben. Der große Garten sollte neu hergestellt und gepflegt, auch das Haus für alle ausgebaut werden.

Nachdem dergestalt eine friedliche Windstille eingetreten und die Zukunft heller und wieder glücksfähiger geworden schien, entlud sich auch Martin Salanders Gemüt seiner Lasten bis auf den dunklen Druck seines verjüngten Liebesbedürfnisses, oder wie man es nennen mochte. Um seine mannigfaltige Tätigkeit für Volk und Staat mit erneuter Kraft aufzunehmen, war ihm, wie er unverwüstlich glaubte, die Herzerneuerung durch die schöne, keusche Neigung notwendig, die sich während des Unwetters geduckt hatte, wie jenes Käuzlein, und nun wieder die[308] Flügel breit machte und die Augen glühen ließ in den dunklen Nächten. Zwar hielt ihn die Anwesenheit der Töchter noch von allen bedenklichen Schritten zurück, so daß er sich nur in unbestimmten Plänen und Hoffnungen des Wiedersehens erging.

Da geschah es an einem Winternachmittage, als er einen Marsch ins freie Feld tun wollte, daß er dem Fräulein Myrrha Glawicz begegnete, welches in der Vorstadt einen verlorenen Weg zu suchen schien und, in Samt, Pelz und Schleier gehüllt, vorsichtig und scheu die feinen Füße in den Schnee setzte gleich einem verirrten ziervollen Vogel aus wärmeren Zonen.

Erst als sie schon ganz in der Nähe war, erkannte er die Gestalt, die er mit den Augen wohlgefällig verfolgt hatte, und sah, wie sie tief errötete und ihn mit den großen Augen flehentlich ansah, als ob sie um Mitleid bäte, da er sie freudig erschreckt begrüßte. Erfahrend, wohin sie wolle, führte er sie eine Strecke auf den richtigen Weg, den sie zu gehen hatte, und versuchte mit ihr zu sprechen, abermals ohne einen ordentlichen Gang der Wechselreden zu finden. Denn er war bald ebenso verwirrt wie die Dame selber, die sich, vor einem Hause stehenbleibend, plötzlich mit süßem Danke und neuem Erröten losmachte und hineinging.

Seinen Weg stundenlang fortsetzend, bis die rötliche Dämmerung die beschneiten Fluren allmählich verhüllte, beschloß er, seiner Gattin anzukündigen, daß er die Wohlwendschen Frauen ins Haus einzuführen wünsche, und ihr dabei offen zu bekennen, wie er des Anblickes der unschuldigen Schönheit Myrrhas bedürfe und daran von den Krankheiten der Zeit zu gesunden und wieder zu erstarken hoffe, und wie das alles keine Bedenken und Gefahren in sich bergen solle. Kurz, er dachte sich eine lange Rede aus, seine Torheit als Weisheit darzustellen; und selbst die guten Töchter erschienen ihm nicht mehr als Hindernisse, sondern im Gegenteil als jugendliche Mittlerinnen in dem Verjüngungshandel, da sie ja erst recht den wonniglichen Verkehr[309] ermöglichten. Trotzdem schlug ihm das Herz etwas ängstlich, als er sich seinem Hause näherte; die Angst verwandelte sich aber in Verwunderung, weil alle Fenster von unten bis oben hell erleuchtet waren.

Auf dem Hausflur lagen Kisten und Gepäckstücke; die schöne Laterne, die von oben herunterhing, als ein neuangeschafftes Stück, erhellte die Treppen, auf denen Frau Marie mit dem Schlüsselbund dem Manne begegnete. Sie fiel ihm sofort um den Hals und rief:

»Martin, wo bleibst du? Es ist wieder einmal einer aus Brasilien gekommen! Arnold ist da!«

»Jetzt schon? Ich glaubte, auf Ostern gelte es?« sagte Salander betroffen.

»Er wird eben täglich klüger und hat sich früher eingeschifft! Komm herein, Setti und Netti sind in allen Zuständen, das macht, er hat sich herzig gegen sie benommen, sie brauchten sich gar nicht zu schämen vor dem Herrn Bruder! Hör nur, wie sie lachen!«

Sie lachten wirklich, obschon Arnold ganz ernsthaft in der Stube stand, als Vater Martin hineinging. Der Sohn trug den jugendlichen Kopf des letztern auf den Schultern; aber er war um einen Zoll höher gewachsen und dabei schlank wie eine Tanne. Das Herz des Vaters freute sich über den Anblick; ein feines Ohr hätte mitten in der Herzensfreude einen schwachen Schrei, wie eines erwürgten Kaninchens hören können, da in derselben die pedantische Liebelei Martins ohne weitere Umstände verschied. Denn ohne daß er sich deutlich des Vorganges bewußt wurde, stand der blühende Sohn wie eine lebendige Kritik vor ihm und wirkte augenblicklich auf seine gute Natur.

Im übrigen schüttelten sie sich bieder die Hände. »Ich meinte,« sagte Salander, »du kämst im Frühling?«

»So war ich gewillt! Allein im März muß ich wieder einmal meinen Militärdienst tun, sie wollen mir nicht länger Urlaub geben. Wenn ich meinen jetzigen Grad behalten wolle,[310] heißt es, so müsse ich dienen, weil ich noch jung sei, sie können keine alten Leutnants in den Batterien brauchen! Vorher muß ich doch ein paar Monate mich hier einleben!«

»Du hast recht!« erwiderte Martin wehmütig. »Ich wollte meiner Zeit auch noch dienen und wäre wenigstens vielleicht ein brauchbarer Verwaltungsoffizier geworden; daran hat mich die Wohlwendgeschichte verhindert, als ich Knall und Fall fort mußte! Nun hab ich doch den Sohn im Feuer, wenn's etwas gibt!«

»Apropos Wohlwend«, sagte Arnold Salander, »da bring ich Neuigkeiten mit! Ich habe die Akten, betreffend deinen Handel mit der verpufften Bank in Rio, nicht vergebens mitgenommen. Erst ein Vierteljahr vor der Abreise bekam ich durch einen guten Bekannten von dir Wind, daß ein alter ausgeräucherter Kerl von jener Gesellschaft, von der Not getrieben, herangeschlichen sei und krank im Spitale liege. Er sei entdeckt worden; verschiedene Leute, die einst Schaden erlitten, ließen ihn gerichtlich verhören, und der geschwächte Patron, der nichts mehr zu verlieren habe, krame aus, was er wisse. Natürlich gab ich deine Akten, versehen mit einem zweckdienlichen Auszug und Bericht, auch ein und verlangte die Einvernahme. Siehe da, er bekannte, hinter dem Rücken des schönen Direktoriums mit Schadenmüller-Wohlwend noch einen besondern geheimen Betrugskonto geführt zu haben, zu dessen Gunsten sie einander bei guter Verlegenheit allerlei Hasen in die Küche gejagt; so habe er auch den Wohlwend von deiner Erzählung und der dafür erhaltenen kolossalen Tratte in Kenntnis gesetzt und ihm bedeutet, was er zu tun nicht unterlassen solle. Allein sie hätten, von den Ereignissen überrascht, den sauberen Konto nie liquidieren können, und so habe Wohlwend für sich behalten, was er erwischt, das heißt, was hier in Münsterburg nicht ausbezahlt worden sei. Das Protokoll in gutem Portugiesisch, gehörig beglaubigt, habe ich bei mir. Der Mensch ist dann gestorben; was dort weiter geschehen, weiß ich nicht.«[311]

Martin hörte staunend zu und sagte zuletzt nur: »Also doch!« Aber statt sich lange bei der altvermuteten und neubestätigten Sache aufzuhalten, mußte er in verschwiegenen Gedanken nur das gütige Geschick preisen, das im letzten Augenblicke ihn davor bewahrte, in das ihm gestellte Netz zu fallen, seine treue Frau zu kränken und vor dem Sohne als ein törichter alter Mensch dazustehen. Mit dem letzten Seufzer, den er in dieser Sache tat, gelobte er sich Besserung, und schritt darauf an der Spitze der Seinigen in das Speisezimmer, wo Frau Marie und ihre Töchter zu Ehren des Heimgekehrten den Tisch bereitet hatten und die Magdalene mit wahrem Hochmut den schönsten Braten auftrug, den sie seit langem gewendet und begossen.

»Ich bin nun froh, daß ich endlich wieder da bin,« sagte Arnold Salander, als der Vater ihm einschenkte, »es ist doch am besten in der Heimat!«

»Du kommst gerade in keinem glücklichen Augenblick,« versetzte Martin, der Vater; »hast du nicht vernommen, was in diesem Jahre alles über uns gegangen ist von elendem Zeug?«

»Ich habe es wohl verfolgt und zwar in unsern eigenen Zeitungen,« entgegnete Arnold, »es war nicht erbaulich! doch ist schon manches über unser Land gekrochen, was noch weniger schön gewesen ist! Nach den glorreichen Burgunderkriegen war das Volk so verwildert, daß man jeden aufhenken mußte, der soviel stahl, als ein Strick kostete. Das steht ja schon in unsern Schulbüchern! Und doch haben wir die vierhundert Jahre weitergelebt!«

»Es war zuweilen auch danach,« sagte der Vater, »es ist aber doch ein guter Spruch, den du getan hast! Kommt, Frau und Kinder, und laßt uns mit Arnold anstoßen und uns freuen, daß er es erträglicher findet, als wir gehofft!«

Sie klangen froh, wie lange nicht, mit allen Gläsern zusammen, Magdalene schaute unter der Tür zu und strich mit beiden Zeigefingern die Augen. Frau Marie rief sie heran und bot[312] ihr das eigene Glas, das sie tapfer leerte, worauf sie schämig hinauslief.

Arnold nahm sein Wort nochmals auf.

»Ich glaube,« sagte er, »es würde vieles erträglicher werden, wenn man weniger selbstzufrieden wäre bei uns und die Vaterlandsliebe nicht immer mit der Selbstbewunderung verwechselte! Ich habe, obgleich noch jung, ein ziemliches Stück von der Welt gesehen und das Sprichwort: ›C'est partout comme chez nous‹ würdigen gelernt. Wenn wir nun etwa in ein schlechtes Fahrwasser geraten, so müssen wir eben hinauszukommen suchen und uns inzwischen mit der Umkehrung jenes Wortes trösten: Es ist bei uns, wie überall!«

Das war dem alten Martin aus dem Herzen und ganz nach seinem Sinne gesprochen; nur dünkte es ihn neu, weil er selbst, seit er so rüstig an dem öffentlichen Wohle mitgezimmert und -gebastelt, manches für unvergleichlicher und einziger gehalten hatte, als es war.

Noch geraume Zeit saß die wiedervereinigte Familie beisammen und ganz so glücklich, wie an jenem Abend, da Martin gekommen war, die hungernden Kinder samt der Mutter zu speisen.

Mit leichtem Mute und wirklich verjüngt ging er zu Bett. Nach einiger Zeit, da Marie wahrnahm, daß er nicht schlief, sondern zufrieden etwas spintisierte, rief sie:

»Du, Martin! Gelt, der Arnold freut dich doch, denn du hast zum ersten Mal deinen Gutenachtseufzer vergessen, mit dem du mich seit länger als einem halben Jahre betrübt hast!«

»Du bist nur halb auf der Spur!« gab Martin bedächtig stockend zur Antwort; dann entschloß er sich jedoch, der treuen Frau seine Abirrung zu bekennen, damit kein dunkler Punkt zwischen ihnen sei.

Er erzählte ihr also die ganze Geschichte mit der Myrrha Glawicz, die eingebildeten Liebesleiden bei harmlosen Absichten und höheren ethischen Beweggründen, samt der Rede,[313] die er sich für Frau Marie ausgedacht, bis zu dem Augenblick, wo der bloße Anblick des Sohnes das Luftschloß zertrümmerte.

»Nun, was sagst du dazu?« fragte der vergebungsbedürftige Mann hinüber, da die Frau schwieg. Erst nachdem sie sich eine Weile unruhig auf ihrem Lager gedreht, lachte sie plötzlich hellauf und schwieg dann wieder. Dann lachte sie nochmals und sagte:

»Ich lache nur aus Freuden darüber, daß diese letzte Gefahr, die uns bedroht, sich so glimpflich verzogen hat! Dank du dem Himmel, Mann! daß dein Sohn so zu rechter Zeit, auf die Minute, gekommen ist! Es wäre ja nicht um mich zu tun gewesen, aber um dich und ihn, und die Töchter! Wie wären wir vor denen dagestanden! Aber weißt du, Martin, weil du von der einfachen, unerwarteten Gegenwart unseres Sohnes geheilt wurdest, so soll dir die Verrücktheit vergeben und vergessen sein, die du mir hast antun wollen! Es ist ein gutes Zeichen, ein goldenes, das ich mir im Gemüt aufbewahren will, solang ich noch lebe! Und jetzt, schlaf wohl, Mann, deine Geschichte hat doch etwas Einschläferliches an sich!«

So ging Martin Salanders später Liebesfrühling, der die Verjüngung seiner politischen Tatkraft herbeiführen sollte, in Gnaden und ohne weitere Gewitter vorüber.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 5, Berlin 1958–1961, S. 304-314.
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