XX

[314] Und er schien doch jünger geworden, als er, den Sohn zur Seite, am nächsten Morgen den Weg nach seinem Kontor beschritt. Leicht trugen ihn die Füße; die Hüften aber wiegten sich leise, fast unmerklich, hin und her, wie einstmals, wenn ein frischer Lebensmut, ein guter Gedanke ihn durchströmten.

Im Geschäftshause angekommen, unterhielten sie sich zuerst mit den Angestellten, die Arnold freundschaftlich grüßte, und[314] besprachen im allgemeinen dies und jenes, was der Tag brachte oder in letzter Zeit ausgeführt worden. Dann begaben sich Vater und Sohn in Martins besonderes Zimmer, um in ausführlicher Unterredung Stand und Zukunft des Hauses gründlicher zu erörtern, als es in Briefen geschehen konnte. Neues trat hiebei nicht viel zutage, wenn es nicht etwa die Schlußfrage war, ob nicht die Geschäfte, die Unternehmungen bei so befriedigendem Gange auszudehnen und ein gewisser Aufschwung zu wagen sei?

Es war Martin, der die Frage aufgeworfen und den Sohn aufmerksam und mit vollem Vertrauen ansah.

Arnold bedachte sich oder hielt vielmehr mit der Antwort zurück, welche er nicht zu suchen brauchte. Er spielte indessen mit dem Muster einer neuen Goldwage, die man auf des Vaters Tisch gestellt hatte.

»Es hängt von dir ab, lieber Vater!« sagte er endlich, »ich arbeite gern mit unter deiner Leitung!«

»Nein, von dir hängt es ab!« erwiderte Martin, »du bist der Sohn und Erbe, dessen die Zukunft ist!«

»Der Nachdruck der Frage liegt in den Worte ›wagen‹, das du gebraucht hast: ob eine Ausdehnung zu wagen sei!« fuhr Arnold fort, »wir stehen hart an der Grenze, wo dies ganz richtig gesagt ist, d.h. wo man, um Mehreres zu tun, ein Teil des Gewonnenen, vielleicht schließlich alles aufs Spiel setzen muß. Für meine Person, muß ich gestehen, habe ich drüben, jenseits des Wassers, in stillen Augenblicken mehr als einmal nachgedacht, wieweit wir eigentlich gedeihen wollen in unserm Erwerb? Wollen wir in der Tat kleine Nabobs werden, die entweder ihr Leben ändern oder den weit über ihre Bedürfnisse reichenden Mammon ängstlich vergraben müssen und in beiden Fällen vor sich selbst lächerlich sind? Zudem bist du ja Politiker und Volksmann, ich bin meines Zeichens Geschichtsfreund und Jurist; es steht also uns beiden besser an, wenn wir in schlicht bürgerlichen Verhältnissen und Gewohnheiten bleiben, wie du[315] es bis jetzt so musterhaft getan hast. Vergib, das ist mein Gefühl! Ich empfinde auch einiges Heimweh nach meinen Büchern und müßte bei allfällig rapidem Anwachsen des Geschäfts mehr Zeit mit dem Kurszettel in der Hand und auf der Börse zubringen, als mir lieb wäre!«

»Du sprichst nur Gedanken aus, die ich selbst schon gehegt! Was mich aber auf die Frage gebracht hat, ist die Zukunft unsers Landes. Ich fürchte, die Zeit ist nicht mehr fern, in welcher die Gesetzgebung die Hand kräftiger auf das Vermögen legen wird; da dürfte es, dacht ich, gut sein, wenn man tüchtiger einzuschießen hat, ohne gerade zu verarmen.«

Arnold lachte.

»Das wäre,« sagte er, »nicht mein Standpunkt, ich möchte nicht Geldmacher für zukünftige Dinge sein, die ich nicht billigen kann. Ich werde vielmehr die Willkür bestreiten, solang ich es vermag; siegt sie, wohl und gut, so füge ich mich gelassen; dann ist es mir aber auch gleichgültig, ob sie uns zwei oder zehn Millionen nehmen.«

»Ei, wer spricht denn gleich so von nehmen,« rief der Vater leicht gereizt, »es geht alles mit rechten Dingen zu! Glaub aber nur, die Postulate der Notwendigkeit werden so dicht regnen, daß wir noch froh sind, gute Schuhe zu haben!«

»So laß regnen, es wird auch wieder aufhören! Erinnere dich, Vater, an den Anfang unsers Jahrhunderts, als nach der durchgerungenen Helvetik das Vaterland auf den Kopf gestellt war und in der Knechtschaft des ersten Konsuls von Frankreich seufzte. Damals berichteten die Pfarrer, daß in ihren Gemeinden viele Leute lebensmüd seien und sich nach dem Tode sehnten! Jetzt nach achtzig Jahren sitzen wir, geringe Leute vom Lande, frei wie Lerchen in der Luft, wenn auch nicht frei von Leidenschaft vielleicht: wir sitzen hier in einem der Häuser der untergegangenen Aristokratie und pflegen Rats, ob wir noch reicher werden wollen oder nicht! Ich fürchte mich aber weder mit dem vielen Gelde noch ohne dasselbe!«[316]

Der alte Salander blickte den jungen mit glänzenden Augen an und ergriff dessen Hand.

»So laß uns,« sprach er gerührt, mit leiserer Stimme, wie ein Verschwörer, »laß uns zu dieser Stunde geloben, daß wir das Land und Volk nie verlassen wollen, es mag beschließen, was es will.«

»Das kann ich wohl geloben!« antwortete der Sohn, den Handschlag des Vaters erwidernd. »Höhere Gewalt immerhin vorbehalten!«

»Was meinst du damit?«

»In diesem Fall zum Beispiel eine völlige Entartung!«

»Das kann ja die schönste reservatio mentalis werden!«

»Nun, also ohne Vorbehalt! Es würde doch chez nous comme partout sein!«

»Also es gilt!« schloß Martin Salander und gab Arnolds Hand frei.

»Und was das Geschäft betrifft,« fügte er bei, »so lassen wir es einstweilen beim alten!«

Nach dieser seltsamen Verhandlung, in welcher die zwei Männer sich so grundverschieden und doch wieder so grundähnlich erwiesen, kamen sie auf den Louis Wohlwend zu sprechen und berieten, was mit dem von Arnold aufgebrachten Protokoll zu beginnen sei. Sie fanden, daß sie schon wegen der Verjährung keinen Nutzen mehr für das Haus darin suchen, dagegen unter der Hand sich erkundigen wollten, ob etwa Pflichten gegen dritte eine Anzeige erheischen könnten. Vorläufig beschlossen sie, eine deutsche Übersetzung anzufertigen, um mittels derselben nötigenfalls den Wohlwend zu jeder Stunde durch bloßen Vorhalt aus dem Lande treiben zu können. Inzwischen sollte der Verkehr mit ihm gänzlich abgebrochen werden. Arnold empfand nicht übel Lust, die Verjagung ohne weiteres vorzunehmen; der Vater hingegen war für das Abwarten, da er mit den Frauen, die er für unschuldige Opfer hielt, Erbarmen hatte. Sogar Wohlwend selber zu schonen, fühlte er ein geheimes Bedürfnis;[317] denn wenn der Sünder für die Strafe auch nicht mehr erreichbar war, so mußte ihn das Bekanntwerden jenes Aktenstückes dennoch in die Reihen der offenkundigen Verbrecher endgültig hinabstoßen. Und er blieb doch immer Salanders ältester Jugendgenosse und gewesener guter Freund.

Kaum waren auch diese Dinge abgetan und die Männer im Begriff, jeder an eine Beschäftigung zu gehen, so klopfte es und der unglückliche Wohlwend trat herein, die schöne Myrrha am Arme führend.

»Verzeih, alter Freund,« rief er, »daß wir dich so unvorgesehen überfallen! Da mache ich mit meiner Schwägerin einen Gang durch die Stadt und vernehme plötzlich, daß der Herr Sohn heimgekehrt sei. Und wie wir hier an das Haus kommen, sag ich, wir wollen einen Sprung hinauftun, du kannst immer mitkommen, und den Herrn in frischer Tat begrüßen! Seien Sie auch uns bestens willkommen, Herr Arnold, so heißen Sie doch?«

Vater und Sohn waren wie vom Blitz getroffen. Keiner ergriff die dargebotene Hand, aber keiner wußte ein Wort zu sagen, noch weniger brachten sie es über sich, den Mann in Gegenwart des so rührend schönen Frauenzimmers schroff abzuweisen. Endlich ermannte sich Martin Salander, indem er den alten Freund sachte beiseite zog und leise zu ihm sagte:

»Sie entschuldigen, Herr Wohlwend, daß wir Sie jetzt nicht sprechen können! Wir sind, wie Sie leicht begreifen, dringend beschäftigt!«

»Sie?« murmelte Wohlwend stutzend und trat sogleich weiter zur Seite, »was soll das heißen?«

»O nicht eben viel!« versetzte Martin verlegen und doch sonderbar gereizt, daß der böse Geist die gefährliche Person vor die Augen des Sohnes brachte. »Die Verhältnisse ändern sich zuweilen; ein geeigneter Aufschluß wird sich wohl finden lassen; für heute, wie gesagt, müssen wir Entschuldigung verlangen, wir sind wirklich sehr beschäftigt!«[318]

Er hätte kein härteres Wort über die Lippen gebracht, weil Myrrha, nach welcher er einmal hinschielte, ein inniges Mitleid von neuem erweckte. In seiner Verlegenheit schritt er neben Wohlwend an der Wand auf und nieder, während er seine abgebrochenen Worte sprach, und Wohlwend schritt beharrlich neben ihm her, schweigend, böse Blicke schießend, auch nach den jungen Leuten spähend und den Aufbruch nicht wagend, weil er nicht wußte, wie der sich gestalten würde.

Indessen war Myrrha verlassen im Zimmer gestanden, ratlos blickend und zuletzt zitternd, als Arnold sie überrascht betrachtete. Nun bat er sie gefälligst, sich zu setzen, und nahm selbst einen Stuhl.

»Sie sind aus Ungarn, mein Fräulein?« fragte er sie mit unwillkürlicher Teilnahme, um etwas zu sagen.

Wiederum zitternd schaute sie ihn an und erwiderte mit erwachendem Vertrauen:

»Ja wahrlich aus Ungarn, Königreich! Aber Schwager Volvend-Glavicz hat nicht wahr gesagt, nicht jetzt auf der Straßen, schon gestern abend hat gewußt, daß gnädiges Herr angekommen sind! Aber entschuldigen Sie, er hat nur vergessen!«

»Und wie lange leben Sie schon hier?«

»Glaub ich, zwei Jahr, oder eines, bitt ich um Vergebung, ich weiß es nicht sicher!«

»Und wie gefällt es Ihnen denn in der Schweiz?« fuhr er etwas verblüfft fort und sah sie genauer an. Das empfand sie wohl. Sie flüsterte mit fallenden Tränen:

»Mir gefällt es nirgendwo! Bin ich nur schön, aber nicht ganz gescheit, sagte mein Vater seliger, und Herr Volvend-Glavicz sagt, bin ich auf den Kopf gefallen, aber Heiraten macht gesund! Versteh ich nicht, aber auch glaub ich nicht, bis ich das sehe!«

Das alles sagte sie trotz der Bedrängnis mit trauten Worten, von Jugend zu Jugend, wie wenn sie da vor die rechte Schmiede[319] gekommen wäre in einer verworrenen und höchst bedenklichen Angelegenheit. Immer mehr erstaunt sah Arnold das zierliche Geschöpf forschend an und entdeckte erst jetzt, wie ein irres Licht durch den feuchten Schleier der Tränen flackerte.

In diesem Augenblicke blinzelte Wohlwend herüber, der noch immer in der Unbehaglichkeit neben dem alten Salander herlief, und sah die scheinbar schnelle Vertrautheit der jungen Leutchen. Offenbar hielt er die ausgeworfene Angel für festsitzend, mochte aber für geraten halten, die Schnur für einmal abzureißen, um die Angel für einen günstigeren Zeitpunkt wirken zu lassen. Plötzlich ließ er den Vater Salander stehen, trat mit zwei Schritten hinter Myrrhas Stuhl und legte die Hand auf ihre Achsel.

»Nun dürfen wir die Herren aber wirklich nicht länger stören,« rief er, »komm, Schwägerin Myrrha, wir wollen uns empfehlen!«

Zugleich nahm er sie, die sich erschrocken erhob, an den Arm und verschwand, laute Abschiedsworte in das Zimmer zurückrufend und eine stattliche Pelzmütze schwingend, mit dem schönen Scheingebilde ebenso rasch durch die Tür, wie er gekommen war.

Vater und Sohn standen und schauten sich an.

Arnold tat endlich einen starken Atemzug, gleich einem, der sich von jähem Schreck erholt.

»Wie schad um das schöne Frauenzimmer!« sagte er.

»Wieso schade?« fragte der Alte entgegen, der schon zu fürchten begann, der Sohn möchte sich bereits verliebt haben.

»Nun,« meinte Arnold hinwieder, »weil der arme Tropf ja blödsinnig ist, wo nicht gar verrückt!«

»Blödsinnig?«

»Aber weiß man denn das nicht? Hast du nie mit ihr gesprochen?«

»Mehrmals! Allerdings wollte nie ein ordentliches Gespräch zustande kommen!«[320]

»Jedenfalls ist das Mädchen in hohem Grade einfältig, was wohl aufs gleiche herauskommt! Hör nur, mit was die Ärmste mich unterhalten hat.«

Arnold erzählte den Inhalt ihrer wenigen Reden und schilderte ihr Benehmen, den Ausdruck ihres Gesichtes.

Der Vater wurde feuerrot bis unter die angesilberten Locken über der Stirne, ratlos, was er dazu sagen solle. Es war ein allzu bitterer Nachklang, der ihn auf dem Nachhauseweg, den sie angetreten, wiederholt den Kopf schütteln ließ. Arnold nahm diese innere Erregung nicht wahr. Der Sohn hatte das kleine Ereignis auch schon vergessen, als es ihm bei Tisch unversehens einfiel und er davon zu reden begann. Nachdem er den Hergang geschildert, hob er hervor, wie gut sich natürliche Anmut mit Blödsinnigkeit zu vertragen scheine. Es sei aber ein unheimliches Schauspiel, und er würde sich doch dafür bedanken.

Frau Marie war sofort leicht rot geworden, als er des unerwarteten Besuches erwähnte. Als sie aber einen Blick auf ihren Mann warf und in seinen stummen Zügen den schwer verhehlten Kampf mit der Beschämung, in der er vor ihr saß, bemerkte, verzog sich die Röte wie ein zarter Rosenschleier, und in den Augen, um die Lippen regte es sich leise wie das feinste Lustspiel, das je in einem Frauengesichte aufgeführt wurde.

Nur Martin Salander, der die Gattin mißtrauisch anblickte, sah und verstand es; er fühlte sich leidlich besser, nickte ihr dankbar und etwas dummlich zu, indem er sie um ein Glas Wasser bat. Aber schon hatte sich das Spiel auf Maries Gesicht in ernste Zufriedenheit verwandelt, als sie hörte, mit welch kalter Ruhe Arnold seine Offenbarungen schloß.

Erst jetzt wagte Salander, der Vater, dem Sohne zu bemerken: »Du hast aber doch den Kopf etwas nah mit ihr zusammengesteckt, wie ich flüchtig sehen konnte!«

»Nicht ich,« entgegnete Arnold, »sie war es, die mir in ihrer Unschuld näher rückte, und das störte mich sogar ein bißchen, weil sie jedenfalls kurz vorher Wurst gegessen hat, wie ich an[321] ihrem Hauche spürte. Wäre etwas Senf dagewesen, so hätte ich ihn dazu genossen!«

»Mit dir ist auch nicht gut Kirschen essen!« rief eine der Schwestern, die bislang kleinlaut zuhörten, da das Kapitel ihnen nicht gefiel, und der Vater sagte:

»Ja, er ist ein kritischer Gesell!« Die Mutter sagte kein Wort; aber ihr Auge ruhte wohlgefällig auf dem Sohne. Das wahre Geheimnis war und blieb den Kindern verborgen.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 5, Berlin 1958–1961, S. 314-322.
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