Das Leben

[157] Schwestern, Brüder, laßt uns leben,

Leben ist gar hohes Gut,

Machet stark die freie Seele,

Frischet auf den Lebensmut!


Ist das Herz Euch so verdorben,

Daß das Leben Euch nicht lieb?

Ist das Feuer schon erstorben,

Daß der Geist Euch schwach und trüb?


O vergeudet nicht die Kräfte

In der eitlen Sinnenlust!

Werfet ab den Staub zur Erde,

Wenn Ihr Euch des Staubs bewußt!
[157]

Schließt das Leben in die Arme,

Bis es Euch zum Herzen dringt,

Laßt den Arm nicht kraftlos hängen,

Der das Gute gern vollbringt!


O die Macht, die uns gegeben,

Wer weiß, ob sie wiederkehrt?

Ob die Macht, die klein uns dünket,

Einst uns auch noch angehört?


Brüder, Kindheit ist das Leben

Eines höhern Lebens dort.

Laßt der Kindheit würdig leben:

Gott hält uns dort droben Wort.

Quelle:
Friederike Kempner: Gedichte. Berlin 81903, S. CLVII157-CLVIII158.
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