Sonnenuntergang und Aufgang

[233] Ein Sonnenuntergang, der Untergang

Desjenigen Volks, das einst so hoch gestrahlt,

Siehst Du die Streifen, purpurrot und lang,

Den jeder Untergang am Himmel malt –


El fresco, blutig halb, halb rosenrot,

Als zögen Schmerz und Unschuld Hand in Hand –

Ein stürmisch Leben, ein erhabner Tod –

Ein siegreich Dulden, das nichts überwand.


Welch' großes Bild! im Hintergrunde Tag,

Im Vordergrunde tiefe Nacht man sieht,

Ein Volk, das tief im Staube kniet –

Hoch über seinem Haupt die Prüfung lag –


Und Tränen, Dornen, Ketten, aller Art –

Und harte, gift'ge Zungen lauern dort –

Und Herzen, ihnen gegenüber, hart

Wie Stein, und wie der stille Mord.


Und Angst und jähe Flucht und bleiche Not

Mit tausend Schrecken, Qualen, wechseln ab,

– Ein Schatten-Leben und ein rascher Tod, –

In düsterm Flammen-, frischem Wellengrab.
[234]

Das Volk sieht lange sich die Prüfung an:

Das Unglück, wie es leibt und lebt und stirbt,

Und wie es, demütig auf steilem Pfad hinan,

Um einen kalten Blick des Mitleids wirbt!


Im Vordergrunde Nacht – im Herzen Licht,

Im Herzen jenes Morgenrot

Des Glaubens und der Zuversicht –

Erhaben über Finsternis und Tod –


Sie überdauernd, überdauernd Raum und Zeit,

Sie umgestaltend in den ewigen Tag –

Sie umgestaltend in Unsterblichkeit:

Das gläub'ge Volk hofft es bei jedem Schlag;


Das Volk sieht in den Abgrund tief hinab,

Und ruft: ich werde leben! Gott mit mir!

Geb't mir zur Reise um die Welt den Stab,

– Den Glauben – ihn allein nehm' ich mit mir.


Und überall verkünd' ich Gottes Wort,

Ein Weltalls-Prediger, bewährt durch Tat,

Als Glaubensbild weil' ich an jedem Ort,

Ein Gotteslehrer und – der Völker Rat. –
[235]

Hier steht das Mißgeschick, doch dicht der Glaube,

Dort steht das irdsche Glück, mit ihm das Nichts –

Hier bist Du jedem irdschen Schmerz zum Raube,

Allein Du bleibst ein Sohn des ew'gen Lichts –!


So rief ein Engel unter Lorbeerzweigen,

Und zeigte nochmals Tag und Nacht zugleich,

Und todesmutig sie die Häupter neigen,

Und rufen laut: wir wählen ew'ges Reich.


Quelle:
Friederike Kempner: Gedichte. Berlin 81903, S. CCXXXIII233-CCXXXVI236.
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