Zweites Kapitel.

[13] Ohnweit des Hirtenhauses stand das Haus eines sonderbaren Mannes, sie nannten ihn Meister Lambert; der war im Rufe eines großen Arztes, und es nahmen alle Kranken dieser Wälder, ja auch Kranke aus entfernten Gegenden ihre Zuflucht zu ihm.

Man sagte von ihm, daß er so auffallende Kuren durch die Kraft der Sympathie verrichte und in uralten angeerbten Handschriften hohe Geheimnisse bewahre. Gewiß aber ist, daß er ein Mann war, der den Staub der Schule von sich geschüttelt, als Kind mit Einfalt und Liebe der Natur selbst sich hingab, der frei von den störenden Einflüssen eines gemeinern Gesellschaftslebens sich gefangen an ihr Herz gelegt. So war die Natur ihm befreundet, es war sein Wesen ihr gleich geworden, er fühlte und erkannte ihre Einflüsse, ohne sie in Regeln fassen zu wollen.[13]

Er hatte den Gang der Gestirne und ihren Wechsel emsig belauscht, das Aufblühen und Verblühen der Tiere und Gewächse, das Schaffen in den Tiefen der Erde in Stein und Metall, und es schloß sich seinem reinen, ungestörten Gemüte manches Wunder auf, das einem der Natur entfremdeten Sinn ewig verborgen bleiben muß, ja von dem ein solcher, von gemeinen Eindrücken befangener Sinn niemals auch nur die entfernteste Ahnung erhält.

»Die Natur, die gar liebreiche Mutter,« sprach er oft, »legt uns so gern an ihre Brust, daß wir die Harmonie ihres Herzens vernehmen, wenn wir uns nur nicht so fremd und großgezogen gebärdeten. Wie eine sorgsame Mutter nach dem kaum laufenden Kinde die Arme ausreckt und ihm damit den geraden, sichern Weg zu ihren Brüsten zeigt, also tut uns die gar liebe Mutter, die Natur, denken wir uns nur nicht so gar großgewachsen; denn dann tritt die sittsame, scheue Mutter zurück und verhüllt vor uns Großen ihre Geheimnisse. Mit gewissenhafter Ängstlichkeit lag auch ich einst dem Studium der Meinungen und Systeme ob; aber recht meinen bessern Teil zu wecken erschien mir bald eine lange Zeit hindurch in jeder Nacht ein Hirsch mit Storchenfüßen, der vor mein Bett sich stellte und mir mit den unverschämtesten, höhnendsten Ausdrücken befahl, ihn nach Linné in eine Klasse zu stellen. Da durchblätterte ich, vor mir den schreckhaften Presser, jedesmal angstvoll im Traume all meine Kompendien und Manuskripte, konnte von dem Ungetüm nichts geschrieben finden, ihm keinen Namen anweisen und erwachte dann jedesmal recht ermattet am Morgen. Erst als ich den Staub der Schule von mir abgeschüttelt, ein Kind mich in den Schoß der Natur legte, verließ mich diese widrige, beängstigende Erscheinung.«

Von diesem Manne wurde Serpentin als Gehilfe angenommen. Er übertrug ihm gern die Berührung und Bereitung der Arzneimittel, weil er sah, wie er sie mit Glauben und Liebe bereitete, und er darin die eigentümliche Kraft der Mischung setzte.

Das Haus, das er bewohnte, war ein einsames Waldhaus im Gebirge. Es lag im wildesten Teil dieser Gegend zwischen hohen Granitfelsen in einer Schlucht, durch die ein Waldstrom sich hinzog. In den Spaltungen des Urgebirgs, auf den Überresten eines längst erstorbenen kräftigen Lebens, hatten Tannen- und Forchenbäume Wurzel gefaßt und ragten oft in seltsamen Stellungen über die Schlucht hin.

Das Dickicht der Waldung, die wild aufeinandergetürmten[14] Felsmassen gestatteten keine freie Aussicht, und es blieb oben nur so schmal, als wie unten der Strom durch die enge Schlucht hinlief, ein Streifen des Himmels sichtbar. Dagegen sprangen lebendige Quellen zu Hunderten aus rätselhaften Tiefen der Erde und schienen durch ihre Klarheit und Bläue den so sparsam zugemessenen Himmel ersetzen zu wollen.

Meister Lambert hatte seine Wohnung von einem Holzhändler erkauft, der in die Stadt gezogen war. In einer Kammer derselben auf ihrem obern Boden lebte seit langer Zeit her ein uralter Mann; der jedesmalige neue Besitzer des Hauses hatte ihn immer wieder von dem Abziehenden übernommen, und so geschah es schon seit langer Zeit her. Als Lambert das Haus bezog, war der Mann vor Alter schon ganz stumpf an Sinnen, er schien Gehör und Sprache gänzlich verloren zu haben. Er ging in dem Hause still aus und ein und holte sich selbst Wurzeln und Waldfrüchte, seine einzige Nahrung. Sein Körper war stark zusammengekrümmt, sein Gesicht und besonders sein Nacken voll Runzeln, die hart und kalt anzufühlen waren.

Sein Kinn und Haupt war wie mit Moos bewachsen, er war ein Bild des höchsten erstarrten Menschenalters.

Er hatte sich in seiner Kammer ein Lager von Moos bereitet, da lag er den größten Teil der Zeit ruhig. Seine ledernen Hände spielten meistens mit einer lebenden Schildkröte, die er immer bei sich hatte.

Die ältesten Männer dieser Gebirge erinnerten sich, ihn in ihrer Jugend schon so mit seiner Schildkröte gesehen zu haben. Sie nannten ihn nur den Waldvater, wußten aber nicht, wie alt er war, oder woher er eigentlich gekommen. Einige wollten sich einer dunklen Sage erinnern, nach der er vom Meere gekommen und viel Elend erlebt habe.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 13-15.
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