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Die Mädchen des Waldgebirgs saßen im Hirtenhause vertraulich beim Spinnrocken. Der Mond schien durch die runden Fensterscheiben und erhellte das niedere Gemach. Serpentin lag ohnweit des Glockenspiels auf einer Bank an der Wand. Das Haupt hatte er auf den Arm gestützt und war in Träume versunken.
Wie der Mond durch das dichte Gezweige des Nußbaumes vor dem Hause schien, warf er vorüberziehende Gestalten auf die Wände des Gemaches. Serpentin dachte sich in ihnen Geister, die in fliegenden Gewanden hinschwebten, spielende Meerfrauen, kristallhelle Blumen und Sterne.
Seit seinem dritten Jahre immer in den Klüften dieser Gebirge, in der Nacht dieser Wälder lebend, hatte er noch keine freie Aussicht gesehen, noch keinen geöffneten Himmel, keinen Aufgang oder Niedergang der Sonne.
Bücher, die er bei seinem Meister fand, hatten ihm von der größern Welt manches erzählt, das er sich aber immer auf schwarzem Grund in den brennendhellsten Farben dachte; ja, je beschränkter und tiefer dis Wildnis der Gebirge und Wälder war, je heller wurden die Gestalten und Flächen, die sich ihm im Geiste vor Augen stellten.
Die Mädchen beim Spinnrocken erzählten nach der Reihe Märchen und Geschichten alter Zeit. Serpentin vernahm keines: denn er dichtete sich jetzt gerade selbst eine wundersame Geschichte aus den vorüberschwebenden Mondgestalten, die ihm auch oft wie Ahnungen und Bilder aus seiner frühesten Kindheit vorkamen.
Jetzt begann Sililie ihr Märchen, und die ihm liebe Stimme weckte ihn aus seinen Träumen. Sie sprach: »Der Mond, der sich dort auf den schwarzen Felsen seßt, mahnt mich an das Märchen, das die Pflegemutter mir so oft erzählte, nächtlich, wenn das helle Glockenspiel im stillen Zimmer hallte. Ich nenne es nur ›das Märchen vom Lichte‹, denn es gibt mir immer die hellsten Träume.«[9]
Serpentin lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit, während Sililie also erzählte:
1»Es sind wohl zweitausend Jahre oder noch länger, da hat in einem dichten Walde ein armer Hirt gelebt, der hatte sich ein bretternes Haus mitten im Walde erbaut, darin wohnte er mit seinem Weib und sechs Kindern; die waren alle Knaben. An dem Hause war ein Ziehbrunnen und ein Gärtlein, und wann der Vater das Vieh hütete, so gingen die Kinder hinaus und brachten ihm zu Mittag oder zu Abend einen kühlen Trunk aus dem Brunnen oder ein Gericht aus dem Gärtlein.
Dem jüngsten der Knaben riefen die Eltern nur: Goldener, denn seine Haare waren wie Gold, und obgleich der jüngste, so war er doch der stärkste von allen und der größte.
Sooft die Kinder hinausgingen, so ging Goldener mit einem Baumzweige voran; anders wollte keines gehen, denn jedes fürchtete sich, zuerst auf ein Abenteuer zu stoßen; ging aber Goldener voran, so folgten sie freudig eins hinter dem andern nach durch das dunkelste Dickicht, und wenn auch schon der Mond über dem Gebirge stand.
Eines Abends ergötzten sich die Knaben auf dem Rückweg vom Vater mit Spielen im Walde, und hatte sich Goldener vor allen so sehr im Spiele ereifert, daß er so hell aussah, wie das Abendrot. ›Laßt uns zurückgehen!‹ sprach der Älteste, ›es scheint dunkel zu werden.‹ – ›Seht da, der Mond!‹ sprach der Zweite. Da kam es licht zwischen den dunkeln Tannen hervor, und eine Frauengestalt wie der Mond setzte sich auf einen der moosigen Steine, spann mit einer kristallenen Spindel einen lichten Faden in die Nacht hinaus, nickte mit dem Haupte gegen Goldener und sang:
›Der weiße Fink, die goldene Ros',
Die Königskron' im Meeresschoß.‹
Sie hätte wohl noch weiter gesungen, da brach ihr der Faden und sie erlosch wie ein Licht. Nun war es ganz Nacht, die Kinder faßte ein Grausen, sie sprangen mit kläglichem Geschrei, das eine dahin, das andere dorthin, über Felsen und Klüfte und verlor eins das andere.
Wohl viele Tage und Nächte irrte Goldener in dem dicken Wald umher, fand auch weder einen seiner Brüder, noch die[10] Hütte seines Vaters, noch sonst die Spur eines Menschen: denn es war der Wald gar dicht verwachsen, ein Berg über den andern gestellt und eine Kluft unter die andere.
Die Braunbeeren, welche überall herumrankten, stillten seinen Hunger und löschten seinen Durst, sonst wär' er gar jämmerlich gestorben. Endlich am dritten Tage, andere sagen gar erst am sechsten, wurde der Wald hell und immer heller, und da kam er zuletzt hinaus auf eine schöne grüne Wiese.
Da war es ihm so leicht um das Herz, und er atmete mit vollen Zügen die freie Luft ein.
Auf derselben Wiese waren Garne ausgelegt, denn da wohnte ein Vogelsteller, der fing die Vögel, die aus dem Wald flogen, und trug sie in die Stadt zu Kaufe.
›Solch ein Bursch ist mir gerade vonnöten‹ dachte der Vogelsteller, als er Goldener erblickte, der auf der grünen Wiese nah an den Garnen stand und in den weiten blauen Himmel hineinsah und sich nicht satt sehen konnte.
Der Vogelsteller wollte sich einen Spaß machen, er zog seine Garne und husch! war Goldener gefangen und lag unter dem Garne gar erstaunt, denn er wußte nicht, wie das geschehen war. ›So fängt man die Vögel, die aus dem Walde kommen‹, sprach der Vogelsteller laut lachend; ›deine roten Federn sind mir eben recht. Du bist wohl ein verschlagener Fuchs; bleibe bei mir, ich lehre dich auch die Vögel fangen.‹
Goldener war gleich dabei; ihm deuchte unter den Vögeln ein gar lustig Leben, zumal er ganz die Hoffnung aufgegeben hatte, die Hütte seines Vaters wiederzufinden.
›Laß erproben, was du gelernt hast‹, sprach der Vogelsteller nach einigen Tagen zu ihm. Goldener zog die Garne, und bei dem ersten Zuge fing er einen schneeweißen Finken.
›Packe dich mit diesem weißen Finken!‹ schrie der Vogelsteller, ›du hast es mit dem Bösen zu tun!‹ und so stieß er ihn gar unsanft von der Wiese, indem er den weißen Finken, den ihm Goldener gereicht hatte, unter vielen Verwünschungen mit den Füßen zertrat.
Goldener konnte die Worte des Vogelstellers nicht begreifen; er ging getrost wieder in den Wald zurück und nahm sich noch einmal vor, die Hütte seines Vaters zu suchen.
Er lief Tag und Nacht über Felsensteine und alte gefallene Baumstämme, fiel auch gar oft über die schwarzen Wurzeln, die aus dem Boden überall hervorragten.
Am dritten Tag aber wurde der Wald heller und immer heller, und da kam er endlich hinaus und in einen schönen,[11] lichten Garten, der war voll der lieblichsten Blumen, und weil Goldener so was noch nie gesehen, blieb er voll Verwunderung stehen. Der Gärtner im Garten bemerkte ihn nicht so bald, denn Goldener stand unter den Sonnenblumen, und seine Haare glänzten im Sonnenschein nicht anders als so eine Blume.
›Ha!‹ sprach der Gärtner, ›solch einen Burschen hab' ich gerade vonnöten‹, und schloß das Tor des Gartens. Goldener ließ es sich gefallen, denn ihm deuchte unter den Blumen ein gar buntes Leben, zumal er ganz die Hoffnung aufgegeben hatte, die Hütte seines Vaters wiederzufinden.
›Fort in den Wald!‹ sprach der Gärtner eines Morgens zu Goldener, ›hol' mir einen wilden Rosenstock, damit ich zahme Rosen darauf pflanze!‹ Goldener ging nnd kam mit einem Stock der schönsten goldfarbenen Rosen zurück, die waren auch nicht anders, als hätte sie der geschickteste Goldschmied für die Tafel eines Königs geschmiedet.
›Packe dich mit diesen goldenen Rosen!‹ schrie der Gärtner, ›du hast es mit dem Bösen zu tun!‹ und so stieß er ihn gar unsanft aus dem Garten, indem er die goldenen Rosen unter vielen Verwünschungen in die Erde trat.
Goldener konnte die Worte des Gärtners nicht begreifen; er ging getrost wieder in den Wald zurück und nahm sich nochmals vor, die Hütte seines Vaters zu suchen.
Er lief Tag und Nacht von Baum zu Baum, von Fels zu Fels. Am dritten Tag endlich wurde der Wald hell und immer heller, und da kam Goldener hinaus und an das blaue Meer, das lag in einer unermeßlichen Weite vor ihm. Die Sonne spiegelte sich eben in der kristallhellen Fläche, da war es wie fließendes Gold, darauf schwammen schöngeschmückte Schiffe mit langen, fliegenden Wimpeln.
Eine zierliche Fischerbarke stand am Ufer, in die trat Goldener und sah mit Erstaunen in die Helle hinaus.
›Ein solcher Bursch ist uns gerade vonnöten‹, sprachen die Fischer, und husch! stießen sie vom Lande. Goldener ließ es sich gefallen, denn ihm deuchte bei den Wellen ein goldenes Leben, zumal er ganz die Hoffnung aufgegeben hatte, seines Vaters Hütte wiederzufinden.
Die Fischer warfen ihre Netze aus und fingen nichts. ›Laß sehen, ob du glücklicher bist!‹ sprach ein alter Fischer mit silbernen Haaren zu Goldener. Mit ungeschickten Händen senkte Goldener das Netz in die Tiefe, zog und fischte eine Krone von hellem Golde.
›Triumph!‹ rief der alte Fischer und fiel Goldenern zu[12] Füßen, ›ich begrüße dich als unsern König! Vor hundert Jahren versenkte der alte König, welcher keinen Erben hatte, sterbend seine Krone im Meer, und so lange, bis irgendeinen Glücklichen das Schicksal bestimmt hätte, die Krone wieder aus der Tiefe zu ziehen, sollte der Thron ohne Nachfolger in Trauer gehüllt bleiben.‹
›Heil unserem König!‹ riefen die Fischer und setzten Goldenern die Krone auf. Die Kunde von Goldener und der wiedergefundenen Königskrone erscholl bald von Schiff zu Schiff und über das Meer weit in das Land hinein. Da war die goldene Fläche bald mit bunten Nachen bedeckt und mit Schiffen, die mit Blumen und Laubwerk geziert waren; diese begrüßten, alle mit lautem Jubel das Schiff, auf welchem König Goldener stand. Er stand, die helle Krone auf dem Haupte, am Vorderteile des Schiffes und sah ruhig der Sonne zu, wie sie im Meere erlosch.«
Sililie hatte geendigt, die Uhr schlug Mitternacht, und ihre hellen Glasglocken hallten eine einfache Melodie durch das stille Gemach. Der Mond war unter den Felsen hinabgesunken, und Nacht war in dem Gemache. Serpentin saß in tiefes Nachdenken versunken, und je dunkler es um ihn wurde, desto heller traten all die lichten Bilder jenes Märchens vor ihn, die helle grüne Wiese, der Garten mit seinen lichten Blumen und das brennende Meer. Er schlich sich aus dem Hirtenhause in die Wohnung seines Meisters und legte sich zu noch hellern Träumen auf sein Lager.
1 Dieses Märchen wurde als ein Bruchstück dieser größern Dichtung in dem Dichterwalde aufgeführt und aus diesem von Gottschalk in seiner Sammlung von Volksmärchen abgedruckt, wahrscheinlich weil der Herausgeber derselben vermeinte, es liege diesem Märchen eine Volkssage oder Volksdichtung zugrunde, was aber nicht ist. –
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